1. Kapitel (6)

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Sie schlich theatralisch auf Zehenspitzen zur Tür, wandte sich um und warf mir einen Verschwörerblick zu, bevor sie im Flur verschwand.


Halbherzig durchstöberte ich meinen Schrank. Unser Hausmädchen Flores hatte meine Koffer ausgepackt, aber die einzigen Klamotten, die für eine Bar in Hillings infrage kamen, waren ein Jeans- und ein kariertes Gingham-Kleid.

Gerade als ich mich für Ersteres mit dazu passenden Riemchensandalen entschieden hatte und diesen Look im Spiegel betrachtete, kehrte Belinda zurück.

»Ta-daa!« Sie warf sich in Pose. Mit den superknappen schwarzen Hotpants wäre sie in jeder Bar der Hingucker – auch ohne die Karobluse, die sie unter der Brust so gebunden hatte, dass ihr ganzer Bauch frei lag. Hohe Reitstiefel vervollständigten das Outfit.

Ich glotzte. »Woher hast du ...?«

»Darling, ich sagte doch: sieben Jahre Reitunterricht. Natürlich habe ich die Stiefel dabei. Und da dachte ich beim Einpacken, warum nicht auch gleich mein Show-Cowgirl-Outfit?«

»Aus welcher Show?« Belinda war mal Statistin in irgendeiner Broadway-Produktion gewesen, doch sie lächelte nur geheimnisvoll und bewunderte sich in meinem Spiegel.

»Du hast nicht zufällig einen Cowboyhut? Oder ein Lasso?«

»Nein! Gehen wir bitte«, flehte ich, bevor sie auf weitere Ideen kommen konnte.

Wir schlichen aus dem Zimmer, über die Treppe und durch die Hintertür. Von dort war es nicht weit zum Carport, trotzdem klebte mein Blick am Haus, während Belinda den Motor startete. Jemand musste uns gehört haben! Mom oder Dad würde herbeistürmen und ...

Niemand kam.

Wir fuhren los und als wir bei der Oleanderhecke auf die Straße bogen, stieg ein Kichern in mir hoch. Zum ersten Mal in meinem Leben verstand ich, warum mein Bruder andauernd die Regeln unserer Eltern brach. Nie zuvor hatte ich mich so wagemutig, so frei gefühlt!

Das schwindelige Freiheitsgefühl hielt bis zu den ersten Häusern von Hillings. Dann stürmten mit jeder Sekunde neue Sorgen auf mich ein. Was, wenn wir in eine Barschlägerei gerieten? In eine Drogenrazzia? Wenn die Cops unsere Ausweise verlangten? Wenn mich einfach so jemand erkannte – eine von Moms Wohltätigkeits-Freundinnen, einer von Dads Klienten?

Belinda fuhr langsam, fast Schritttempo. Ich sah zwei, drei Bars, aber ich wies sie nicht darauf hin. Die Häuser wirkten in der Dunkelheit noch heruntergekommener als bei Tageslicht. Von allen Schildern blätterte die Farbe ab oder die Neonbuchstaben flackerten. Auf dem Gehsteig vor dem letzten Lokal stritt ein betrunkenes Pärchen.

Belinda sah zu mir, doch ich schüttelte den Kopf.

Ein Schild zog vorbei.

You are leaving Hillings. Come back soon!

Belinda brach das Schweigen. »Wenn du nicht willst ...« Sie hielt mich für feige. Sie hatte ja auch recht.

»Nein, nein«, log ich. »Ich suche ... Da ist es!« Knallrot leuchtete der Neonschriftzug BAR durchs Dunkel. Hier draußen gab es nicht mal mehr Straßenlaternen und das Holzgebäude, das ein wenig nach zu groß geratener Blockhütte aussah, hob sich nur als Schatten von der Wüste ab. Ich konnte mich nicht erinnern es jemals schon bemerkt zu haben.

Umso besser. Mit etwas Glück wüsste hier niemand, wer ich war.

Belinda bog auf den Parkplatz und lenkte das Cabrio in eine Lücke zwischen einem alten Ford und einem noch älteren, total verbeulten Pick-up einer undefinierbaren Marke. Wir stiegen aus. Unter dem neonroten BAR auf dem Dach hing über der Tür ein weiteres gemaltes Schild. Zwei Scheinwerfer beleuchteten den Schriftzug Desert Bar und ein grinsendes Skelett, das durch die Wüste ritt.

»Bitte sehr.« Ich versuchte mutig zu klingen. »Sieht das etwa nicht nach Cowboys und Indianern aus?« Das Skelett trug sogar den passenden Hut mit breiter Krempe.

Belinda musterte mich zweifelnd, doch sie stieß die Tür auf – eine dieser zweiteiligen Saloontüren, die beim Öffnen gefährlich hin und her schwangen. Hastig schob ich mich hinter Belinda durch. Laute Rockmusik dröhnte uns entgegen. Vorn bei der Bar saßen ein paar ältere Männer und Frauen an billigen Plastiktischen, im hinteren Teil des Raums scharten sich die Gäste um zwei Pooltische und eine Dartscheibe. Auch eine alte Jukebox stand dort.

Belinda hielt auf die Theke zu und schenkte dem Bartender ihr breitestes Lächeln. Er war etwa in Barons Alter, Mitte zwanzig.

»Ein Gläschen Rotwein bitte. Für meine Freundin das Gleiche. Cabernet Sauvignon, wenn du ihn dahast.« Ihre perfekte französische Aussprache schien den Bartender nicht zu beeindrucken. Angesichts seiner strähnigen blonden Haare und des fleckigen grünen T-Shirts, auf dem WHATEVER, DUDE stand, bezweifelte ich, dass er die Worte »Cabernet Sauvignon« schon mal gehört hatte.

Sein Blick glitt von Belindas knallrotem Lippenstift zu ihren Hotpants. »Uh-uh. Und ich schätze, du bist einundzwanzig.«

Sie kramte in ihrer Geldbörse. »Willst du meinen Ausweis sehen?«

Als er nickte, schob sie ihm einen gefalteten Hundert-Dollar-Schein über die Theke.

»Gratuliere zum einundzwanzigsten Geburtstag.« Der Bartender steckte das Geld in eine Tasche seiner Cargoshorts und wandte sich ab. Ich sah nicht, was er tat, hörte nur das Klirren von Gläsern, bevor er sich bückte und erst irgendwelche Kisten am Boden, dann den Kühlschrank hinter der Theke öffnete. Belinda hob eine Augenbraue.

Nach einer Weile drehte er sich wieder um. In einer Hand hielt er zwei Cognacgläser, in der anderen eine Weinflasche ohne Etikett. Er schenkte uns Rotwein ein, behauptete frech »Das macht neun Dollar« und reichte uns die Gläser tatsächlich erst, als ihm Belinda einen weiteren Schein gab.

Wir hatten es eilig wegzukommen. Ich hielt auf einen der Tische zu, doch Belinda packte mich am Arm.

»Willst du nicht ...?«

»... zu den alten Knackern? Nein danke.« Sie zog mich in den hinteren Teil des Raums. Hier war es erstaunlich ruhig – die Musik kam nicht von der Jukebox, diese diente offenbar nur als Deko – und auch nicht so schummrig wie vorn. Belinda lehnte sich an den Musikautomaten. Ich ahmte ihre Pose nach und schnupperte argwöhnisch an meinem Wein, der so gar nicht wie Cabernet Sauvignon roch.

»Hey, du Hübsche!« Erschrocken riss ich den Kopf in die Höhe. Aber natürlich galt die Anrede Belinda. Ein blonder Mittzwanziger baute sich vor ihr auf. Er trug einen Overall, als käme er gerade von einer Baustelle oder vom Feld. Wenigstens das um die Hüften gebundene Flanellhemd hatte ich richtig erraten.

»Hab dich noch nie gesehen. Neu hier?«


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