1. Kapitel (4)

257 12 0
                                    

Belinda stellte den Motor ab. Ein letzter rascher Blick in den Spiegel. Wir stiegen aus und kaum berührten meine Absätze die Steinfliesen, kaum atmete ich den süßen Duft der Magnolien ein, durchfuhr mich die Erkenntnis wie ein Blitz: Ich war zu Hause.


»Nette kleine Hütte«, kommentierte Belinda, als wir unter dem Dach des Stellplatzes hervortraten.

»Was meinst du mit ›klein‹? Und mit ›Hütte‹?« Zu spät bemerkte ich ihr Grinsen.

Der Hillingsley-Palast sah nicht mehr aus wie in den Zwanzigern. Mein Großvater hatte die Holzverkleidung der Fassade durch eine griechisch inspirierte Säulenfront ersetzt. Mom und Dad hatten das von ihm hinzugefügte Türmchen wieder wegreißen und das gesamte Obergeschoss erneuern lassen.

Ich wies auf eines der Fenster. »Dort wohnst du. Mein Zimmer liegt gleich nebenan. Und weil mein Bruder nicht da ist, haben wir das Stockwerk für uns allein.«

»Perfekt. Das heißt, wir feiern drei Monate lang eine Pyjamaparty?«, zog Belinda mich auf. Ein Witz? Oder plante sie wirklich den ganzen Sommer im Negligé abzuhängen? Vermutlich würde sie damit sogar durchkommen. Mom und Dad wagten sich nie ins Obergeschoss. Wir bräuchten also nur die Hausmädchen zu bestechen ...

Die Stufen der Veranda knarzten leise. Wie immer. Die hohen, schmalen Fenster zu beiden Seiten der Haustür waren mit weißen Rollläden verhangen. Obwohl ich einen Schlüssel hatte, klingelte ich. Es fühlte sich richtig an.

Während wir warteten, drehte ich mich zur Seite und sah über die Oleanderhecke, die das Haus von der Straße abschirmte. Die öde, staubige Wüste dahinter zog sich bis zu den ebenso schmutzigen Häusern und vereinzelten Neonschildern von Hillings. Der Garten mit seinem satten grünen Rasen und den duftenden, blühenden Bäumen war ein privates Paradies, unser eigenes Eden. Nie zuvor war mir aufgefallen, wie sehr mein Zuhause und die Farm der Crockers einander ähnelten.

Schritte näherten sich, die Tür schwang auf. Ich wandte den Kopf und blickte in ein sehr vertrautes, sonnengebräuntes Gesicht.

Schwarze Augen musterten erst mich, dann Belinda. Die plumpe, ältliche Mexikanerin in einem geblümten Kleid runzelte die Stirn, als wisse sie nicht, welche der beiden Rothaarigen die Tochter des Hauses war.

Ihr Blick blieb an mir hängen und ein Lächeln erschien. »Buenas tardes, Miss Faye. Du warst lange fort.«

»Buenas tardes, Lupe.« Guadelupe war unsere Perle und so etwas wie der gute Geist des Hauses. Als Kind hatte ich Mühe gehabt, ihren Namen richtig auszusprechen, deshalb hatte sie mir erlaubt sie einfach »Lupe« zu nennen. Und dabei war es geblieben.

»Bell, darf ich dir Guadelupe, unsere Haushälterin, vorstellen? Und Lupe, das ist meine beste Freundin und Zimmerkollegin an der Highschool, Belinda d'Argento-Travers.«

»Buenas tardes, Miss Bell«, begrüßte Lupe sie herzlich.

Das »Miss Bell« war sicher gut gemeint, trotzdem zuckte ich zusammen. Würde sich Belinda durch die mangelnde Förmlichkeit beleidigt fühlen? Ich öffnete den Mund, aber sie war schneller.

»Buenas tardes, Lupe«, erwiderte sie mit einem Südstaatenakzent, der exakt wie meiner klang. Zu Beginn unserer Freundschaft hatte sie fast einen Monat damit verbracht, mich beim Sprechen zu studieren – für ihre spätere Bühnenkarriere.

»Wie geht es dir, Lupe?«, warf ich hastig ein. »Und wie geht es Fernando?« Lupes Enkel, den ich als Kind immer nur »Do« genannt hatte, war ein Jahr älter als ich. Sie ließ keine Gelegenheit aus, von ihm zu erzählen.

Lupe strahlte. »Gut, sehr gut, Miss Faye! Fernando ist hier. Er wird sich freuen, dass du nach ihm gefragt hast.« Ein spitzbübisches Lächeln erschien auf ihren Lippen. Als Zehnjähriger war Do in mich verknallt gewesen und Lupe hatte ihn sogar beim Planen unserer Hochzeit ertappt. Erst Jahre später hatte sie mir das gebeichtet.

»Er ist hier? Lebt er nicht bei deiner Tochter in Kalifornien?«

»Sí, sí. Nur für den Sommer. Er arbeitet auf der Pine-Cone-Farm.« Sie rieb Daumen und Zeigefinger aneinander. »Muss Geld verdienen. Schule ist teuer.«

Die Farm war eine der unseren. Do würde den Sommer mit der Aufzucht von Piniensetzlingen verbringen und ich beneidete ihn nicht. Mein Bruder Baron hatte mit siebzehn beschlossen die Schule zu schmeißen und Holzfäller zu werden; daraufhin hatte Dad ihn für eine Woche als Aushilfe auf die Pine-Cone-Farm geschickt. Schon nach drei Tagen war Baron reumütig zurückgekehrt. »Nie wieder Pinien. Ich hasse Bäume«, hatte er noch Monate später gestöhnt.

»Sind meine Eltern da?«

», Miss Faye. Sie erwarten euch im Salon.«

Unauffällig sah ich mich um, als Lupe uns am Speisezimmer vorbei durch den langen Flur führte. Die cremefarben gestreiften Tapeten waren neu – Mom hatte sie beim Skypen mal erwähnt – und ebenso die Bilder: Aquarelle in Orange-, Grün- und Purpurtönen.

Der Salon mit seinen dicken Teppichen sah dagegen aus wie immer, auch die Gemälde waren dieselben: Werke indianischer Künstler aus den umliegenden Reservaten. Meine Eltern saßen am Mahagonitisch. Mom sprang auf, als wir das Zimmer betraten. Sie umarmte mich und drückte mir ein Küsschen auf jede Wange, während sich Dad schwerfälliger erhob.

Belustigt musterte er Belinda, dann mich. »Und welche rothaarige Schönheit ist nun meine Tochter?«

»Christopher!«, ermahnte ihn Mom. Sie nannte Dad als Einzige bei seinem vollständigen Vornamen und das auch nur, wenn er irgendwo aneckte. Für alle anderen, sogar für seine Anwaltskollegen und Klienten, hieß er immer »Kip«.

Dad fuhr sich durch die schütteren rotblonden Haare. »Willkommen in unserem bescheidenen Heim«, wandte er sich an Belinda. »Faye hat uns schon viel von dir erzählt und ich hoffe, du fühlst dich bei uns wie zu Hause.«

Ihr Seitenblick auf mich war argwöhnisch, bevor sie ihr strahlendstes Lächeln aufsetzte und sich für die Einladung bedankte. Dad übertrieb maßlos, ich hatte ihm kaum etwas über Belinda erzählt. Aber natürlich wusste er, wer sie war und vor allem, wer ihre Eltern waren. Genau deshalb hatte er mich schließlich auf eine private Highschool geschickt – damit ich Kontakte knüpfen konnte.

Wir machten Smalltalk. Wie war die Fahrt? Verbrachten Belindas Eltern diesen Sommer in New York oder an der Côte d'Azur? Baron schickte seine lieben Grüße, ebenso Onkel Tib, der zum morgigen Willkommensdinner eingeladen war.

»Ich hoffe, du magst Austern und Garnelen«, wandte sich Mom an Belinda – als hätte sie mich nicht schon am Telefon nach Belindas Lieblingsspeisen befragt und als wären Meeresfrüchte etwas, das man seinen Gästen hier in der Wüste ganz selbstverständlich servierte. Ob unsere Köchin Mercedes wusste, woran man frische Austern erkannte, geschweige denn, wie man sie zubereitete? Eine Lebensmittelvergiftung wäre sicher kein guter Start für Dads geschäftliche Beziehungen mit den d'Argento-Travers'.

CowboyküsseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt