1. Kapitel (3)

277 11 0
                                    

Das mit dem Fluch hätte Belinda sicher gefallen, doch ich erwähnte es ihr gegenüber lieber nicht. Es klang einfach allzu sehr nach einem Märchen.


Wir entschieden uns für ein Foto und schickten es Jasper. Belinda legte ihren Schal ab und brachte mit einem batteriebetriebenen Föhn ihre Mähne in Form, während ich meinen Lipgloss erneuerte. Die Eden-Farm lag vor der eigentlichen Stadt Hillings und kaum waren wir über die Ridge und auf dem Weg in den Dip, kam der Rest davon in Sicht: der Trailer unter ein paar Pinyon-Kiefern am Ende des Zitrushains und davor auf der Weide der windschiefe Verschlag für Kühe und Schafe. In den drei Jahren, seit ich das letzte Mal zu Hause gewesen war, hatte sich an dem Anblick nicht viel geändert. Neu war nur der rostige Pick-up hinter dem Trailer.

Onkel Tib würde fluchen. Er nannte schon den Trailer einen »Schandfleck« und hasste Farmer, die ihr Land als Schrottplatz missbrauchten. Besonders wenn dieses gleich neben dem Highway lag und das Erste war, was Touristen von Hillings sahen.

Parallel zur Straße verlief der Weidezaun der Eden-Farm, ein Patchwork aus Stacheldraht, morschen Holzlatten und einem eisernen Tor. Wir waren fast auf dessen Höhe, als ich das Trommeln von Hufen hörte. Ich wandte den Kopf und sah – einen Cowboy! Er galoppierte auf einem gescheckten Pferd über die Weide in unsere Richtung. Statt zu wenden oder vor dem Zaun anzuhalten, spornte er sein Reittier sogar noch an.

Sie sprangen über das hohe Tor, er so tief über den Pferderücken geduckt, dass ich von ihm nur seine Jeans, ein weißes T-Shirt und pechschwarze Haare unter einem dunklen Cowboyhut sah.

Und das Verrückte: In dem Moment, als sie sprangen, tat auch mein Herz einen Satz. Als wäre ich eins mit Pferd und Reiter! Ein Windstoß fegte durch meine Haare. Das Kribbeln in meinem Bauch fühlte sich an wie ein leichter elektrischer Schock.

Hufe klapperten auf Asphalt, dann waren der Cowboy und sein Pferd über den Highway und im kargen Niemandsland zu unserer Linken verschwunden. Ich reckte den Hals und sah ihnen nach, bis der aufgewirbelte Staub sie verschluckte.

Der Wind wurde zu ganz normalem Fahrtwind. Mein Herz schlug wieder im gewohnten Takt. Nur das Kribbeln blieb.

Belinda brach das Schweigen. »Hast du nicht behauptet, es gebe bei euch keine Cowboys?«

Ich riss meinen Blick von der Wüste los. »Es gibt auch keine. Jeder kann einen Cowboyhut tragen!«

»Immerhin ist er ein ziemlich guter Reiter.« Sie klang nachdenklich.

»Woher willst du das wissen?«, entschlüpfte mir. »Du wohnst in New York!«

»Darling, in New York gibt es alles.« Den Satz hatte ich schon oft von Belinda gehört! »Zum Beispiel Reitschulen«, fuhr sie fort und grinste über meine verblüffte Miene. »Ich hatte sieben Jahre lang mitten in Brooklyn Reitunterricht, von meinem sechsten Geburtstag, bis ich dreizehn war. Und glaub mir, an der Reitakademie waren einige gute Springer – aber keiner von denen hätte sich über das Tor gewagt.«

Eine Reitakademie. Mitten in Brooklyn. Wieder einmal war mir nicht klar, ob Belinda mich auf den Arm nahm. Vor allem aber wusste ich genauso wenig wie sie, wer dieser Cowboy in einem Städtchen gewesen war, in dem es keine Cowboys geben sollte. Und warum ich noch immer ein so flaues, kribbeliges Gefühl in mir spürte, als schwirrten tausend Schmetterlinge durch meinen Bauch.

Welcome to Hillings, Arizona.

Ich sah das Schild und wies Belinda an, die nächste Ausfahrt zu nehmen. Während ich sie durchs Zentrum lotste, kehrten meine Sorgen zurück. Was würde Belinda von meinem Zuhause halten? Ich war mit vierzehn zuletzt hier gewesen. Den Sommer nach meinem ersten Jahr an der Highschool hatte ich bei meiner damaligen Zimmerkollegin in San Diego verbracht. Und voriges Jahr hatte mich Belindas Familie mit nach Europa genommen. Drei Monate in ihrem Anwesen an der Côte d'Azur – angeblich, damit Belinda und ich dort Französisch üben könnten. In Wahrheit hatten wir die ganze Zeit über in Cannes, Nizza und Monaco Ausschau nach Filmstars gehalten. Belinda schwor, ihr wäre einmal auf dem Weg zur Toilette im Planet Hollywood von Cannes Johnny Depp begegnet, aber das glaubte ich ihr nicht.

Belindas Eltern hatten sehr viel mehr Geld als meine, auch wenn sie mich immer tröstete, es seien »New Yorker Dollars« und man dürfe nicht vergessen, dass dort alles sehr viel teurer war. Ihr Dad hatte mal für die Regierung kandidiert, ihre Mom saß im Vorstand einer internationalen Fast-Food-Kette. Ich wusste, dass Belinda als Kind ihr Au-Pair-Mädchen »Mommy« und den Portier am Empfang des Penthouses »Daddy« genannt hatte, weil von ihren Eltern keiner je zu Hause gewesen war.


Und in New York gab es alles! Beschämt wandte ich mich ab, als wir zwischen den niedrigen, staubigen Holzhäusern hindurchfuhren. Der Supermarkt war zugleich Bank und Apotheke. Beim Kino bewarben vergilbte Plakate die Filme, die ich schon vor einem halben Jahr gesehen hatte. Gegenüber lag die Highschool, ein brauner Backsteinklotz mit Graffitis an den Mauern und einem Basketballplatz, an dessen Körben die Netze fehlten. Obwohl man mit dem Auto nur ein paar Minuten bis zu unserem Anwesen brauchte, hatten Mom und Dad keine Sekunde daran gedacht, mich oder Baron hierherzuschicken. Niemand, der Geld hatte, ging in Hillings zur Schule.

Wir bogen in die Hillingsley Palace Road ein. Mein Urgroßvater, der Sohn des Siedlungsgründers, hatte unser Haus in den Zwanzigerjahren ein wenig außerhalb der Stadt errichten lassen. Wegen seiner extravaganten, mit fossilem Holz verkleideten Fassade hatten es die Stadtbewohner Hillingsley-Palast getauft. Die Vertäfelung gab es längst nicht mehr, doch der Name war geblieben.

Kurz vor der Zufahrt zum Anwesen befand sich neben der Straße ein Teich. Er war mit blühendem Laichkraut überwuchert und völlig verschlammt. Aber derzeit reichte der Pegelstand noch für die Bewässerung unseres Gartens. Der Rasen entlang der Zufahrt strahlte so grün wie die Felder der Eden-Farm. Die Seidenakazien blühten pink, die Magnolien schneeweiß und lila und die Kronen der beiden hohen Tipubäume sahen aus wie mit Goldschmuck behangen.

Ich dirigierte Belinda zum Carport neben der Garage. Ein Tor stand offen, ich sah Moms und Dads Cadillacs und den alten Hummer – nur Barons importierter Porsche fehlte. Kein Wunder, mein Bruder hasste die Sommerhitze in Hillings. Er verbrachte seine College-Ferien viel lieber in der Blockhütte unseres Großvaters beim Becker Lake, wo man fischen, jagen und ungestört Partys feiern konnte.

Belinda stellte den Motor ab. Ein letzter rascher Blick in den Spiegel. Wir stiegen aus und kaum berührten meine Absätze die Steinfliesen, kaum atmete ich den süßen Duft der Magnolien ein, durchfuhr mich die Erkenntnis wie ein Blitz: Ich war zu Hause.

CowboyküsseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt