Mir fehlt der Mut (#Kostory)

16.

Hi Kostas,
die Vertrauensprobe ist
simpel. Bitte schließe wenn
du soweit bist einfach deine
Augen und warte. Ich möchte
dich gerne küssen! Also
schummle bitte nicht, sonst
werde ich wieder gehen.
Wenn du hörst, dass ich da bin,
streck bitte deine Hände ein
wenig aus, damit ich sie halten
kann. Das war es auch schon.
Ich muss es einfach nur wissen,
wie es sich anfühlt. Verzeih
mir meinen Egoismus. Wenn ich
gehe, warte noch eine Minute,
bis du deine Augen wieder
öffnest. Dankeschön, dass du
mir diese Chance gibst!

Während ich auf meinem Bett lag, las ich die Nachricht wieder und wieder. Es war echt süß und ich bereute nicht, es getan zu haben, doch dann drängte sich immer stärker die Frage in den Vordergrund, warum sie aus ihrem Aussehen so ein Geheimnis machte. Hatte sie so große Angst vor meiner Reaktion? Hoffentlich nicht! Ich wollte sie jedenfalls nicht bewusst nach ihrem Äußeren bewerten, wenn ich sie bald sah, wie sie versprochen hatte. Und selbst wenn sie keine Schönheit wie Anna war, ich war schließlich auch keine. Das passte schon und unter jeder Haut konnte sich ein schöner Charakter verstecken! Was nützte mir die hübscheste Zimtzicke der Welt, wenn ich mit einer einfühlsamen besseren Hälfte glücklicher wurde?

Belustigt bemerkte ich, wie sehr sich meine Gedanken immer stärker nur um sie zu drehen begannen. Da merkte man mal, Liebe auf den ersten Blick hatte nicht immer Erfolg, wie Abermillionen kitschige Bücher es gerne beschrieben. Romantik und dieses geheimnisvolle Etwas an der ganzen Sache, das setzte sich am Ende auch noch durch und war keineswegs veraltet und aus der Mode gekommen. Ohne ein konkretes Bild von ihr zu haben war ich jetzt Hals über Kopf in sie verliebt und wollte nichts lieber, als den heutigen Tag zu wiederholen und, wenn denn so erlaubt, selbst auch ein wenig mutiger zu sein. War der Kuss heute eigentlich auch nach ihrem Geschmack gewesen? Oder hatte sie es nicht einmal halb so gut gefunden wie ich. Auf diese Antwort musste ich wohl bis morgen warten...

"In letzter Zeit mache ich mir ziemliche Sorgen um dich, Dennis..", murmelte meine Mutter beim Abendessen, als ich noch immer im Sekundentakt wie ein Ampellicht von glücklich zu betrübt hin- und herswitchte. Sogar mein Lieblingsessen verschmähte ich dadurch heute vollkommen und schob es bloß von einem Tellerrand zum anderen. "Mom? Was soll ich tun, wenn ich in jemanden verliebt bin, aber nicht einmal weiß, wer sie ist und wie sie genau aussieht?"

"Ach Schätzchen...", sie beugte sich zu mir hinüber und streichelte mir zuerst tröstend über die Wange, ehe sie mich vorsichtig zu sich zog und umarmte. Das hatten wir geschätzt seit anderthalb Jahren nicht mehr getan und es tat so gut, von jemanden Vertrautes so gehalten zu werden. Mein Vater hingegen schaute nur kurz über den Rand seiner Zeitung hinweg, schnaubte leise und mit dem Kopf schüttelnd und widmete sich dann wieder seiner Lektüre. An seine "Anteilnahme" war ich gewöhnt, er war schon immer kein Mann der Worte und Taten gewesen. Dass er aber meine Bisexualität akzeptiert hatte, ohne mich zu enterben, war mir Grund genug, um ihn nicht dafür zu verachten. Konnte alles noch schlimmer sein.

Seufzend kuschelte ich mich an die Schulter meiner Mutter. Ich hätte ihr vermutlich schon eher mal von meinen Problemen erzählen sollen, anstatt sie alle völlig alleine stemmen zu wollen. Wozu war ich denn noch siebzehn? Es war doch keine Schande, mal um Rat, Unterstützung oder Trost zu fragen! "Wir haben uns seit ein paar Wochen Briefchen hin und hergeschickt, ein Mädchen aus der achten oder neunten hat sie dann jeweils zugestellt. Von ihr weiß ich nur grob, wie sie angeblich aussieht, aber sie scheint mich genauestens zu kennen und zu beobachten. Und heute...", ich holte nochmal tief Luft, "...heute haben wir uns geküsst, doch sie hatte von mir verlangt, dass ich dabei die Augen geschlossen halte. Ich-ich bin einfach komplett durcheinander und weiß nicht, was ich denken und fühlen soll!"

"Dass du durcheinander bist, ist ganz normal, das machen beinahe alle durch! Tu vor allem das, was du für richtig hältst und nicht, was andere von dir erwarten oder wollen könnten! Irgendwann wird sie sich dir schon zeigen! Und dann wirst du sehen, es wird alles gut! Was weißt du denn sicher über sie?"

Ich lächelte schon ein ganzes Stück befreiter: "Sie hat schwarze Haare und dunkle Augen, wurde mir gesagt. Und sie ist kleiner als ich, das habe ich heute bei unserem Kuss bemerkt." Tatsächlich war ich auf diese eigene Entdeckung ziemlich stolz, auch wenn das bei meinen 1,80m eigentlich keine Überraschung war. Um größer zu wirken hatte sie sich ein wenig auf die Zehenspitzen gestellt, auch das hatte ich an ihren kurzen Druckimpulsen gemerkt, als sie noch um einen sicheren Stand gerungen hatte. Sie musste in vielerlei Hinsichten so niedlich sein und gab mir doch noch keine Möglichkeit, sie in der Masse an Leuten an unserer Schule zu finden!

"Das ist doch schonmal ein Anfang! Warum fragst du sie nicht einmal nach ihrer Handynummer oder ihrem Namen? Vielleicht wird sie dir die noch verraten, denkst du nicht?" Das wäre echt schön, aber ich musste ihr verneinen. "Sie möchte nicht, dass ich sie mit Fragen löcher", seufzte ich und löste mich langsam wieder von meiner Mom.

Hoffentlich würde sie sich bald zeigen, damit die Berg- und Talbahnfahrt meiner Gefühle schnellstmöglich vorbei war. Vielleicht noch vor der Klassenfahrt! Auch wenn wir uns dann nicht mehr schreiben konnten, würde es mir besser gehen, wenn ich sie bis dahin schon kannte und nicht vor Ungewissheit dort die ganze Zeit auf und nieder sprang. Ob ich sie ein wenig drängeln durfte? Von der Klassenfahrt konnte sie ja höchstwahrscheinlich nichts wissen und danach blieb nur eine halbe Woche bis zu den Sommerferien! Ich wünschte mir nur, sie wollte mich nicht über die ganzen zwei heißen Monate zappeln lassen.