21.

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[Marik]

"Ich heiße Marik, kurz Mik, komme aus Potsdam und-", ich hob meinen Blick zu einer Geste, die die ganze Klasse einbeziehen sollte, und blieb augenblicklich an einem leuchtend roten Punkt inmitten der gespannten Gesichter hängen. Eine lodernde Haarpracht, die mir bekannt vorkam. Ach, sieh mal einer an, der komische Kauz aus dem Bus. Auch er hatte mich längst wiedererkannt und schaute mich verschreckt wie ein Kaninchen die Schlange an. Die Schlange konnte ich gut spielen, ich hatte sie die letzten Wochen zu leben gelernt. Gleichgültig vollendete ich den Schlenker und fuhr fort: "-und das wars auch schon. Mal sehen, mit wem von euch ich mal abhängen werde. Ich glaube aber beinahe mit keinem..." Das sollte sie erst einmal abgeschreckt haben. Freunde wollte ich hier keine. Nicht nach dem Ereignis. Und deswegen musste ich in meiner Rolle bleiben. Nie wieder jemandem meine Schwachpunkte offenbaren.


"M-marik?" Während ich mich umdrehte, musste ich überlegen, wem die tiefe Stimme gehörte. Achja, ich erinnerte mich. Rotschöpfchen. Umso überraschter war ich, als der Typ heute stattdessen blonde Haare hatte und meinen ersten Eindruck von gestern irgendwie störte. Doch Haarfarbe hin oder her, er war trotzdem noch ein ziemlicher Trottel. Keine zwei Meter vor mir stolperte er über einen am Boden liegenden Sportbeutel und klatschte der Länge nach auf den Flur. Und nicht nur ich hatte das gesehen. Überall begannen die Schüler zu lunsen und dann lauthals zu lachen. Und ich konnte nicht anders, als mitzulachen. Schon gestern war es offensichtlich geworden, dass er das Mobbingopfer der Klasse, wenn nicht sogar der ganzen Schule war. Auffällig, schusselig, unaufmerksam, verplant, Einzelgänger. Seine Eigenschaften passten irgendwie an allen Ecken und Kanten nicht zu seinem Aussehen, das er durch das Blondieren seiner Frisur irgendwie gerettet hatte und das an sich eigentlich ganz okay war.

Dass ich lachte, tat mir plötzlich leid. Es war bloß... wie sollte ich das beschreiben? Er wirkte als Gesamtbild halt so grotesk, dass man kaum anders konnte, als zu lachen! Als ich mir einen Ruck gab, um ihm aufzuhelfen, hatte er sich jedoch bereits alleine aufgerappelt und rannte davon. Ich sah ihm nach, zog meine Hand zurück. Eigentlich war das gut so, alles andere hätte mein Image wohl zunichte gemacht. Aber warum hatte er mich ansprechen wollen?


Man sollte eigentlich meinen, dass Kunst mein Lieblingsfach war. So oft hatte ich bereits gehört, dass meine Bilder gut aussahen, aber ich selbst empfand das gar nicht so. Überall waren kleine Makel, Schönheitsfehler und Patzer, die mich unzufrieden machten!

Als ich dann plötzlich Kostas' "Woah!" neben mir hörte, war mein erster Impuls ihm zu sagen, dass er sich seine Kommentare sparen konnte. Aber ich hielt meinen Mund. Ich wollte ihn nicht noch mehr blamieren, als er es selbst schon immer tat. Stattdessen blickte ich zu ihm hinüber, um ihm anzubieten, dass er das Ding von mir aus haben konnte und ich es eh nicht wollte, doch er hatte sich schon lange abgewandt und schaute mit verbittertem Gesichtsausdruck auf sein Blatt hinunter. Hm, dann halt nicht. Fünf Minuten kritzelte ich noch lustlos seufzend daran herum, dann übermannte mich die Unzufriedenheit vollständig und ich warf das zusammengeknüllte Blatt in den Müll. Nächster Versuch. Stillleben konnte ich eh nicht halb so gut wie Menschen im Animeformat, also versuchte ich es diese Stunde nicht einmal.


"Was wisst ihr eigentlich über Kostas?"

"Über wen?"

"Na, den Typen da. Das Opfer."

Vorsichtig deutete ich in seine Richtung und die Jungs schauten an mir vorbei. "Ach, der..", meinte einer desinteressiert, "der hat keine Freunde. Und er macht andauernd krank. Wieso?"

"Nur so. Was dagegen, wenn wir ihn mal bei uns stehen lassen? Für eine Pause oder so?" Ihr Anführer überlegte und zuckte dann mit den Schultern. "Von mir aus, auch wenn ich ihn uncool finde." Doch als sich ihm zwei der Jungen nähern wollten, wich er ängstlich zurück und rannte wie heute früh bereits weg, auf das Schulgebäude zu. Was war denn nur mit ihm los? Entschuldigend verleierte ich zu den zurückkehrenden Kerlen die Augen. Das war ganz schön nach hinten losgegangen...


Als er dann nach einer Woche wiederkam, spürte ich seltsamerweise Erleichterung in mir aufkeimen. Irgendwie konnte ich mit Kostas mitempfinden. Es war der Moment, in dem ich mich entschloss, ihm anonym zur Aufmunterung Zettelchen zu schreiben, wenn er vor mir schon vehement davonrannte. Vielleicht konnte ich ihm so auch helfen und ihm mehr Selbstbewusstsein schenken.

Wahrscheinlich war es eh ein idiotisches Unternehmen, aber Anna "schuldete" mir eh noch einen Gefallen und es fühlte sich seltsam richtig an, ihm helfen zu wollen. Also schrieb ich meine kleine Schwester in der Pause an und bat sie, vor der Tür zum Hof auf mich zu warten. Die Nummer von Kostas' Schließfach sollte ich auch noch irgendwie hinbekommen, es war auf jeden Fall nicht weit von meinem entfernt und das einzige, das wohl dauerhaft mit Klebestreifen zugeklebt wurde. Wie lang er das tatsächlich schon mitmachte, wollte ich lieber nicht wissen.


Auf dem Heimweg hörte ich Anna lächelnd zu, wie Kostas' Reaktion auf mein Briefchen gewesen war. Ich hatte es extra so formuliert, dass es eher nach einem Text von einem Mädchen klang. Das, so hoffte ich, würde ihn mehr anspornen. Und wenn er nicht herausfand, von wem die Nachrichten stammten, war das auch ganz gut so. Ein offener, freundschaftlicher Kontakt hätte meinem Image dann wirklich geschadet, dass ich aufrecht erhalten musste. Ein cooler Typ hing nicht mit dem Schulopfer ab, selbst wenn dieser mir seltsam sympathisch war. Und deswegen mussten Anna und ich diese Sache auch außerhalb von Zuhause klären. Sonst würden wir bald wieder mit eintausend Kisten und Koffern im Auto sitzen und weit wegziehen. Schon einmal hatte ich vor ihnen und meinen Mitschülern mein Gesicht verloren und ich war nicht scharf darauf, das noch einmal zu erleben.


"Er glaubt, es wäre Myriam. Soll ich ihn noch weiter in diese Richtung lenken?" Eigentlich hatte ich Nicken wollen, doch ich verneinte ihr das. Noch einmal hatte ich versucht, Kostas mit in meine Gruppe zu lotsen, aber er war wieder geflüchtet. Unerklärlicherweise hatte mir gerade das so sehr ins Herz gestochen, dass ich ihm beinahe nachgerannt wäre. Nur noch Anna wusste davon, dass ich in Wirklichkeit schwul war und ich hätte nie gedacht, dass meine Gefühle für Kostas bereits so weit reichten, da ich sie mir doch eigentlich von Anfang an strikt verboten hatte.

"Gib ihm am besten keine Hinweise mehr, den Rest übernehme ich. Wenn er weiter denkt, es wäre Myriam, dann ist es so, wenn nicht braucht er die Wahrheit auch nicht unbedingt zu wissen", bat ich meine Schwester und drückte ihr den nächsten Zettel in die Hand. Schnell verschwand sie damit und ich konnte unbehelligt zum Klassenraum gehen. Wie vermutet, Kostas hatte ein wunderschönes, reines Lächeln gehabt. So unschuldig und pur. Wie hatte er nur jemals dorthin gelangen können, wo er jetzt wie im Netz der Spinne festsaß?


"Weil er nicht ganz richtig im Kopf ist, deshalb! Der is vor vier Jahren oder so mal dabei erwischt worden, wie er mit einem Jungen rumgeschäkert hat!" Ich schluckte innerlich. Hier waren sie also auch so intolerant, was die sexuelle Orientierung anging. Armer Kostas... Ich schaute zu ihm hinüber und mein Blick wurde aus ängstlichen Augen erwidert. Er hatte gerade mit dieser Myriam gesprochen und wollte sich wieder aus dem Staub machen, als Anna ihn aufhielt. Sie zuckte zusammen, als er ihr heftig etwas erwiderte und dann ungehindert die Türen erreichte. Ohne weiter nachzudenken lief ich zu ihr. "Was hat er gesagt?", fragte ich besorgt und sah Kummer in ihren Augen aufblitzen. "Er hat Angst vor dir, Mik. Er glaubt, du möchtest ihn zusammenschlagen, jedes Mal wenn du ihn ansiehst oder deine Jungs zu ihm schickst. Und diesen Zettel hat er mir noch gegeben..."

An Myriam adressiert, eindeutig, wenn ich ihn mir so durchlas. Das eifersüchtige Stechen in meinem Oberkörper bestätigte mir meine Vermutung, dass ich mich wohl in ihn verschossen hatte. Doch wenn er schwul oder von mir aus auch bi oder so war, stellte das glücklicherweise nicht das allzu unüberwindbare Problem dar. Abgesehen von seiner Furcht vor mir.


"In wenigen Wochen sind deine Mitschüler auf Klassenfahrt, Marik. Wir haben bereits das Geld nachbezahlen lassen, kümmere dich um einen Zimmergenossen, der unseren Normen entspricht!"

Ich nickte meiner Mutter zu, ohne wirklich vom Abendessen aufzuschauen. Da gab es für mich eigentlich nur eine Person, die ungeachtet der dämlichen Normen in Frage kam. Und die hatte im Gegensatz zum Rest sicher noch keinem versprochen, in dieser Zeit zusammenwohnen zu wollen. Perfekt!

Und sollte Kostas das seltsam finden, konnte ich im Notfall immer noch den Unwissenden spielen. So würde ich ihm vielleicht auch langsam seine Angst vor mir nehmen. Vorausgesetzt, ich hatte nicht irgendwann mehr Angst davor, ihm zu begegnen und alles zu gestehen. Eine falsche Regung und ich würde ihn nie wieder sehen dürfen...

Mir fehlt der Mut (#Kostory)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt