Zehn

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Antonia Carewell zögerte einen Augenblick lang, bevor sie die Hand hob und an die Tür klopfte. Zwar war sie mit zwei dampfenden Tassen bewaffnet, einem Cappuccino für sich selbst und einem doppelte Espresso für Ibrahim, aber ob das die Stimmung ihres Verflossenen bessern würde, war nicht sicher.

„Herein!", dröhnte seine Stimme durch die Tür, so dass sie sich einen Ruck gab. Seine schlechte Laune war mehr als nur verständlich und genau deshalb musste sie nun für ihn da sein.

Leise trat Antonia ein und schloss die Tür hinter sich. Ibrahim saß an seinem Schreibtisch, einen Wust von Papier und Akten um sich herum verstreut. Sein Gesichtsausdruck milderte sich, als er sie erblickte, aber nichtsdestotrotz sah er müde und abgekämpft aus.

„Hier, Liebling." Antonia stellte seine Tasse auf dem Tisch ab und beugte sich herunter, um ihn zu küssen.

Er erwiderte ihre Zärtlichkeit, sagte dann: „Danke, der Kaffee kommt wie gerufen. Sag mal, kannst du Gedanken lesen?"

„Klar", grinste Antonia zwinkernd und schob seinen Tacker beiseite, um sich auf die Kante setzen zu können. Sie warf einen Blick auf das Chaos und fragte: „Nichts Neues?"

„Nein", antwortete Ibrahim missmutig. „Ich habe sämtliche Aktivitäten aller angeschlossenen Computern checken lassen. Niemand hat irgendwelche Daten gelöscht, auch nicht aus Versehen. Ich kann mir einfach nicht erklären, wie die DNA-Analyse des Kippenstummels verschwinden konnte, genauso wie die Tüte mit ihm und dem Feuerzeug. Wir müssen einen Maulwurf haben."

Ein Maulwurf war jemand, der Informationen an jemand Anderes rausgab oder die Ermittlungen manipulierte.

„Dann verstehe ich aber nicht, wieso ausgerechnet Horans Sachen verschwinden", gab Antonia zu bedenken. „Es ist ja nicht so, dass es ein Fall von größter Brisanz ist. Ich arbeite seit fast zehn Jahren für den Inspektor, ich hatte schon mit mehreren solcher Fälle zu tun."

„Nun, die Schwierigkeit liegt ja darin, dass der Kerl auch unter Druck keine Aussage macht, sondern weiterhin auf seine Unschuld plädiert", meinte Ibrahim. „Wir wissen ja nicht, in was für Sachen er noch alles verstrickt ist."

„Zur Zeit werden wir gar nichts rausbekommen." Antonia zog eine missmutige Schnute. „Er befindet sich nämlich in der Psychatrie des St. John's Zentrum, weil zwei Gutachter ihm bescheinigen, dass er an einer ernsthaften psychischen Krankheit leidet und daher nicht schuldfähig ist."

Ibrahim lachte: „Er ist wirklich ein harter Brocken, nicht wahr? Ich kann mir nicht vorstellen, dass William seinem Theater auf den Leim geht. Wie siehst du das?"

Antonia zuckte mit den Schultern und erwiderte: „Ich denke nicht, nein. Aber das Gutachten wurde von Charles Kaley erstellt, einem alten Freund von ihm. Der ist glaubwürdig und unbestechlich. Wir haben es sogar von einer zweiten Psychologin prüfen lassen, aber beide bescheinigen ihm eine Störung." Sie rümpfte genervt die Nase. „Entweder ist er wirklich plemplem oder ein unglaublich talentierter Schauspieler."

Ibrahim erhob sich von seinem Stuhl und schlang die Arme um sie, um sie ein weiteres Mal zu küssen. Schließlich flüsterte er ihr ins Ohr: „Ich bin ein schlechter Schauspieler. Ich fürchte, meine Frau weiß es."

Diese Aussage, ganz abgesehen von dem plötzlichen Themenwechsel, ließ Antonias Blut in Sekundenschnelle hochkochen.

„Was soll das heißen, du fürchtest?", fauchte sie ihn an und wich seinem Gesicht aus, das sich ihrem beschwichtigend genähert hatte. „Entweder sie weiß es oder sie weiß es nicht!"

„Ihr Flieger kommt heute Abend gegen Zehn. Keine Ahnung, ob ich es vor ihr verstecken kann oder nicht. Immerhin sind wir seit zwölf Jahren verheiratet", murmelte er mit schuldbewusster Miene. „Ich liebe sie nicht mehr, aber ich fühle mich ihr verbunden. Kannst du das nicht irgendwie verstehen?"

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