In Mels Augen ist sie immer noch nicht dünn genug, obwohl ihr Vater das anders zu sehen scheint.
Er sieht das, was Mel nicht sehen kann. Die dünnen Beine, die herausstehenden Rippen, einen knochigen Körper, wenn er sie umarmt. Doch Mel nimmt all das nicht wahr. Nicht etwa, weil sie nicht will. Sie kann es einfach nicht.
In ihrem Kopf hat sich die Vorstellung festgefahren, sie müsse auf jeden Fall dünn sein. Durch das tägliche Wiegen und das Fixieren auf diese eine Sache, auf diesen einen Wunsch, der über allem steht, hat Mel sich selbst aus den Augen verloren.
Sie sieht nicht das, was die anderen sehen, weil sie selbst sich immer noch zu dick fühlt. Auch wenn sie das vielleicht nie gewesen ist.
Menschen, die von Anorexie betroffen sind, haben eine verzerrte Selbstwahrnehmung. Sie erkennen nicht, wie dünn sie wirklich sind, und genau das ist das Gefährliche daran.
Wenn du dich im Spiegel ansiehst und dick aussiehst, wie sollst du dann aufhören können, zu hungern? In deinen Augen bist du ja noch nicht dünn genug.
Es liegt mir wirklich sehr am Herzen, dass ihr diese Sichtweise versteht. Also fragt mich bitte, wenn irgendetwas nicht klar sein sollte.
Essstörungen sind ein ernstes Thema, über das niemand gerne redet. Weder Betroffene, noch Angehörige.
Betroffene, weil sie es nicht sehen. Es bringt nichts, wenn ihr ihnen [den Betroffenen] sagt, dass sie dünn seien. Das bringt sie vielleicht zum Lächeln, doch in ihrem Herzen werden sie es nicht glauben, weil sie sich dick fühlen und ihrer Meinung nach auch so aussehen.
Und wenn man gerne darüber reden würde, hat man das Gefühl, niemand hört einem zu und versteht einen. Oder es wird gesagt, man würde nur Aufmerksamkeit haben wollen. Da reichen auch schon allein die Gedanken, dass es so aufgenommen werden könnte. Ein großer Grund, weshalb ich lange nichts gesagt habe.Angehörige schweigen oft, weil sie Angst haben oder nicht einsehen wollen, dass mit ihrer Freundin/ihrem Freund etwas nicht stimmt. Auch Eltern sind da keine Ausnahme, leider. Vielleicht ist es einfach zu schwer, sich einzugestehen, dass das eigene Kind krank ist, ich weiß es nicht.
Wobei es mir immer widerstrebt, Essstörungen als krank zu bezeichnen. Ja, medizinisch gesehen ist es eine Krankheit, aber zugleich ist es doch so viel mehr und reicht viel tiefer.
Man lebt in seiner eigenen Welt, wenn man unter einer Essstörung leidet.
In einer Parallelwelt.
Weil das, was man sieht, nicht der Wirklichkeit entspricht. Und man die Wirklichkeit zugleich nicht sehen kann.
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Parallelwelt
General FictionMel findet sich zu dick. Der BMI-Rechner und ihr Arzt behaupten zwar, sie sei normalgewichtig, doch ihre Freundinnen sind viel dünner als sie und das bereitet ihr Kopfweh. Eines Tages entdeckt sie bei ihrem Vater im Bücherregal, an dem sie so oft vo...