Ist da jemand? - Adel Tawil

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Sanfte Töne lullen mich in einen Halbschlaf, mein Kopf ist aufgrund der Schwere längst gegen die Scheibe gesunken, an der immer wieder Regenschlieren herabprasseln. Mistwetter. Auch meine Spotify Playlist ist kaum besser als das Wetter oder meine Laune, sie spielt genauso deprimierende Lieder wie der miserable Verlauf des heutigen Tages. Oder der letzten Monate. Sagen wir Jahre, oder ja, vielleicht sogar Leben. Ich seufze und schließe ergebend meine Augen, will die Müdigkeit gewinnen und mich einfach überkommen lassen.

Doch heute soll anscheinend nichts so laufen, wie ich mir das vorstelle. „Ist da noch frei?", vernehme ich ein entferntes, tiefes Brummen. Schnell stelle ich die Lautstärke leiser. „Hm?", erkunde ich mich schläfrig, ziehe die Stöpsel aus meinen Ohren und hebe meinen Blick. Um geradewegs die großgewachsene Statur eines jungen Mannes zu erkennen, bis ich meinen Kopf noch mehr in den Nacken fallen lasse und sein Gesicht mustere. Seinen Kopf schmücken dunkle, schulterlange Locken, die jedoch wegen der Nässe mehr an seinen Wangen kleben. Auf der Stirn hängen noch vereinzelte Regentropfen, sie laufen ihm über die Stirn, doch er scheint sich keineswegs daran zu stören. Generell wirkt er sehr ruhig und ausgelassen auf mich.

„Ob ich mich setzen darf, wollte ich wissen", wiederholt der Fremde seine Worte und schenkt mir ein freundliches Lächeln, das nicht übertrieben ist, dennoch so eine Wärme ausstrahlt, dass ich wie paralysiert nicke. „Klar", krächze ich, doch als er seine Reisetasche im Gepäckfach über uns verstaut und sich auf den Sitz neben mir fallen lässt, bereue ich meine Entscheidung auch schon. Ich will keine Gesellschaft. Alles, was ich will, ist Musik hören und schlafen. Aber doch niemanden, der sich möglicherweise mit einer Unterhaltung die Zeit vertreiben will!

Oh Gott. Er könnte Fragen stellen. Was ist, wenn er mich ausquetscht, ich eine Sekunde zu lange seine Schönheit betrachte und anfange, ihm meine verkorkste Lebensgeschichte zu erzählen? Oh nein, ganz schlecht. Andererseits strahlt seine Anwesenheit eine unvergleichbare Ruhe, eine Zufriedenheit aus, die den Anschein erweckt, als würde sie sofort auf jeden in seiner Nähe umspringen will. Auch ich merke, wie mein Gehirn sich darauf einstellt, meine Anspannung zu lösen und für eine Sekunde zu vergessen.

Aber das ist schier unmöglich. „Sicher, dass es okay für dich ist? Du wirkst verspannt?", erkundigt sich der Lockenkopf, weshalb ich ihn nun erneut anstarre. Ein nachdenkliches „Hm" ist alles, was ich von mir gebe. Ich nehme mir Zeit, ihn zu mustern und vor allem seine Körpersprache zu betrachten. In meinem Kopf schrillen längst wieder die Alarmglocken, ich neige dazu, alles kaputt zu analysieren. Das zumindest hat mir meine Familie mehr als deutlich und nicht nur einmal vorgeworfen. Ist es denn aber auch so verwerflich, ein wenig Kontrolle haben zu wollen?

„Ich bin Harry", meint mein Sitznachbar schließlich mit einem netten Lächeln auf den Lippen und streckt mir seine Hand hin. Als ich perplex auf die mit unzähligen Ringen geschmückten Finger sehe, knabbere ich verwirrt auf meiner Unterlippe herum. Wieso ist er immer noch so freundlich zu mir? Er könnte sich doch genauso gut einfach wegdrehen, auf seinem Handy herumdaddeln und mich ignorieren. Das wäre doch weitaus einfacher. Außerdem bestünde dann nicht die Chance, dass ich ihn langweile, verstöre oder ihn gar nerve. Denn wenn mich jemand freiwillig anspricht, sich mit mir abgibt und einfach Interesse an mir zeigt, dann bedeutet mir das schon beinahe so viel wie anderen eine Liebeserklärung.

„Louis", erwidere ich schüchtern und nehme schließlich nach einigem Hin-und Hergegrüble dann doch zaghaft seine Hand in meine und schüttele sie sanft. „Schön, dich kennenzulernen, Louis. Du hast ganz kleine Hände, das erinnert mich total an meine Schwester, ich finde kleine Hände einfach putzig." Überrascht sehe ich ihn an. Harry schmunzelt. „Ich", fange ich an zu sprechen, halte jedoch kurz inne, da ich erstmal überlegen muss, was ich überhaupt sagen möchte. Ich führe nicht oft Konversationen. Vor allem keine, bei denen sich mal wirklich jemand mit mir als Person beschäftigt.

„Ich bin auch ziemlich klein, nur knapp über 1,70", erwidere ich verlegen und schenke ihm ein schüchternes Lächeln. Wie komisch sich das anfühlt. Zu lächeln. Es sollte etwas Normales sein, ein einfacher Reflex auf einen Reiz. Und für mich ist es etwas Besonderes. Geradezu eine Kostbarkeit. Wie bescheuert.

„Das macht dich doch gleich noch sympathischer", antwortet Harry zuversichtlich. Als ich nicht weiß, was ich daraufhin sagen soll, sehe ich mich in dem Reisebus um. Fast kein einziger Platz ist besetzt. Wieso setzt sich Harry denn dann bitte neben mich? Er hätte so eine riesige Auswahl, wieso also der Platz neben mir?

„Du, Harry", druckse ich also leise herum. Irgendwie habe ich Angst, meine Frage könnte unhöflich sein oder ihn sofort von hier vergraulen und ehrlich gesagt, will ein Teil von mir nicht, dass er sofort wieder geht. Das ist zwar mittlerweile ein Normalzustand in meinem Leben geworden, aber die Hoffnung gebe ich trotzdem nie auf. Dass irgendwann mal jemand bleibt. Und das nicht nur für kurze Zeit.

„Ja, Louis?", seine Augen blicken mich treu an. Er ist sicherlich ein wundervoller Freund. So einen Typ Kumpel, den man sich einfach wünscht, der sofort zur Stelle ist, wenn man ihn braucht und der deine Gedanken kennt, noch bevor sie für dich einen Sinn ergeben. Also sehe ich ihn für einen Moment einfach nur an und nehme jedes Detail an ihm wahr. Man soll sich schließlich die kleinen Freuden des Lebens bewahren, oder nicht? Und Harry scheint irgendwie alleine durch seine Aura etwas auszustrahlen, was einem ein gutes Gefühl gibt. Wieso also nicht genießen?

Als ich nicht weiterspreche, wandert Harrys Blick zu meinem iPhone, das entsperrt auf meinem Schoß liegt. „Spotify?" Ich nicke, ohne richtig hinzuhören, was er sagt. Doch Harry scheint zufrieden. Ohne Erlaubnis greift er nach meinem Smartphone und beginnt, über das Display zu wischen und zu tippen. Ich will widersprechen - ich würde jetzt auch widersprechen - doch es ist Harry. Ich kenne ihn nicht. Aber für den Moment sind wir so etwas wie zwei fremde Freunde. Immerhin teilen wir diese Fahrt hier miteinander. Keine Ahnung, wie lange sie gehen wird. Aber ich hoffe irgendwie bis zum Ende.

Schließlich stellen sich seine Handbewegungen ein und er steckt mir einen der Kopfhörer ins rechte Ohr. Der andere wandert in seine linke Ohrmuschel. Und dann drückt er auf Play.

Ohne Ziel läufst du durch die Straßen
Durch die Nacht, kannst wieder mal nicht schlafen
Du stellst dir vor, dass jemand an dich denkt
Es fühlt sich an als wärst du ganz alleine
Auf deinem Weg liegen riesengroße Steine
Und du weißt nicht, wohin du rennst
Wenn der Himmel ohne Farben ist
Schaust du nach oben und manchmal fragst du dich
Ist da jemand, der mein Herz versteht?
Und der mit mir bis ans Ende geht?
Ist da jemand, der noch an mich glaubt?
Ist da jemand? Ist da jemand?
Der mir den Schatten von der Seele nimmt?
Und mich sicher nach Hause bringt?
Ist da jemand, der mich wirklich braucht?
Ist da jemand? Ist da jemand?

Der Text treibt mir die Tränen in die Augen, verstohlen blinzle ich ein paar Tränen weg und rutsche in meinem Sitz unruhig hin und her. Ich kann das nicht hören. Ich halte es einfach nicht aus.

Erst als Harrys Hand auf meinem auf und ab wippenden Bein landet und es beruhigend streichelt, bemerke ich, wie sehr ich zittere und wie flach mein Atem geht. Vorsichtig, darauf bedacht mir nicht wehzutun, nimmt er mir das Headset aus dem Ohr und beugt sich stattdessen zu mir, was mich fast dazu bringt, mit dem Atmen vollständig aufzuhören. So nahe bin ich einem Menschen schon lange nicht mehr gewesen. Und erst recht keinem Fremden.

"Wenn man nicht mehr danach sucht, kommt so vieles von allein. Hinter jeder neuen Tür, kann die Sonne wieder scheinen."

Es ist beinahe nur ein Flüstern. Doch es sind Harrys Worte. Und sie treiben mir eine Gänsehaut auf meine Arme.

Accidental Passengers (larry stylinson)✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt