Stand By You - Rachel Platten

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Als die letzten Töne des Liedes verklungen sind, drückt Harry auf Stop. Verwirrt sehe ich ihn an. Es ist mein Handy, mein Spotify-Account und er hat die Macht darüber? Okay. Also warte ich einfach ab, was nun geschieht. Und erst einmal passiert rein gar nichts. Seine Hände ruhen weiterhin in seinem Schoß, in ihnen befindet sich mein iPhone. Er sperrt den Bildschirm und wendet sich mir zu. Seine Augen funkeln geheimnisvoll, sie versprühen ein solch intensives Gefühl, dass es beinahe unmöglich ist, sich aus ihren Fängen zu befreien.

"Ich will es wissen", gibt er schließlich vollkommen ruhig von sich, seine Schultern sind entspannt, seine Haltung ist dennoch aufrecht und er wirkt genau wie vorhin wahrlich interessiert. Fragt sich nur woran. "Ich verstehe nicht", äußere ich meine Gedanken ratlos. Harrys Mund verzieht sich zu einem kleinen, amüsierten Lächeln. "Deine Gesichte. Weshalb du hier bist, so früh am Morgen während eines gewaltigen Sturms. Erzähl mir, was dein Antrieb ist. Was dich hält, was dich dazu bewegt, zu gehen. Erzähl mir von der Person Louis. Aber nicht von dem, der nur weiß, wie alt er ist und wo er wohnt, das interessiert mich nicht. Erzähl mir, wieso du einen vollbepackten Rucksack mit dir herumschleppst und was dein hübsches Köpfchen so sehr zum Rauchen bringt."

Peinlich berührt wende ich den Blick ab und betrachte meine schwitzigen Hände, die ineinander verflochten sind, als müssten sie sich vorm Ertrinken retten. "Ich, also", überlege ich, spreche leise mit, was mein Kopf mir vorgibt. Ich würde ihm gerne so viel erzählen. Und ich würde sogar gerne jedes einzelne Detail meines Fluchtversuches durchkauen, doch mal wieder kann ich mich nicht von den Gedanken lösen, er könnte nur einer von vielen falschen Kreaturen dieser Erde sein und zudem versuche ich mir einzutreten, dass sich in einigen Stunden unsere Wege sowieso für immer trennen werden.

"Du ringst also mit dir, ob du mir wirklich vertrauen kannst?", mutmaßt er nach einer Weile. Ertappt sinke ich ein wenig in meinem Sitz zusammen. "Versteh ich", kommentiert er seine Theorie und als seine warmen Finger für kurze Zeit gegen meine stupsen, löse ich all die Anspannung in mir, richte mich auf und sehe ihm direkt in die tiefgrünen Augen. Woher mein Selbstbewusstsein kommt, ist mir schleierhaft, aber ich will nicht länger schweigen. Das habe ich jetzt schon viel zu lange getan. Und eine bessere Gelegenheit als jetzt werde ich wohl nie wieder finden. Ein Fremder zeigt wirkliches Interesse, in ein paar Stunden wird er schon wieder einen neuen Weg seines Lebens bestreiten und ich konnte endlich mal diesen ganzen Frust in mir irgendwo rauslassen. Perfekt also, oder nicht?

"Ich denke, hauptsächlich liegt es an meiner Familie, dass ich daheim raus musste", beginne ich schließlich in gedämpften Tonfall zu reden. Aus dem Augenwinkel nehme ich wahr, wie Harry zuversichtlich lächelt, jedoch nicht zu übertrieben und mir nun seine Aufmerksamkeit gänzlich widmet. Mit einem Kopfnicken bedeutet er mir, weiterzusprechen, was ich dann auch tue. 

"Es hat alles vor ziemlich genau zwei Jahren angefangen. Meine Eltern haben sich zwar schon früher viel häufiger gestritten als andere Paare, aber es ist nie so eskaliert bis zu diesem Zeitpunkt. Es ist total aus dem Ruder gelaufen, aus einer einfachen Anzeige wegen Ruhestörung wurde plötzlich ein ganzes Anschuldigungs-Schreiben des Jugendamts, die Mitteilung, dass man mich ihnen wegnehmen und in ein Heim stecken würde inbegriffen. Weißt du, Harry", ich überlege kurz und sehe aus dem Fenster, "ich wollte raus. Einfach weg von Zuhause. Aber auf der anderen Seite war da diese bedingungslose Liebe gegenüber meinen Eltern und natürlich auch die Angst um meine Schwester, ich wusste nicht, wie sie dem Ganzen gegenüber stand. Alles, was ich von ihr mitbekam, war, wie sie dünner und dünner wurde, man sah ihr keine einzige Emotion mehr an. Sie lächelte nicht mehr, sie weinte nicht, sie war eine leblose Hülle. Und  bei dem Versuch, alles zusammenzuhalten, bin wohl ich selbst immer mehr zerrissen."

Ich starre fest nach draußen, beobachte den unruhigen Tanz der Regentropfen auf der Scheibe und fühle mich dreckig. Wie gern würde ich jetzt draußen sein, alles von mir einfach abwaschen lassen. Aber das geht nicht. Wir alle tragen eine Geschichte, wir alle tragen Narben und Erinnerungen und sie sind für nichts weiter da, als uns auf ewig an all unsere Fehler und dunkelsten Momente zu erinnern. Und ich bin mir ziemlich sicher, niemand wird sie je heilen oder bereinigen können.

Accidental Passengers (larry stylinson)✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt