Es vergeht eine Zeit, in der wir schweigen und dem Geschehen um uns herum lauschen. Es fühlt sich fast an wie Zeit anhalten und ich muss zugeben, es ist das Entspannendste, das ich seit langem getan habe. Einfach hier mit Harry sitzen. Mich auf ihn einlassen, obwohl es vermutlich kein anderer tun würde, aber das ist mir egal. Solange es sich echt und gut anfühlt, sollte man doch die Dinge tun, die die abstrusen, vielleicht auch banalen Auslöser dieser Situationen oder was auch immer sind.
Muss denn immer alles definiert, begründet und erklärt werden? In der Zeit, die wir mit überflüssigen Statements verbringen, könnten wir so vieles mehr erreichen. Menschen zusammenführen, Völker oder ganze Nationen vereinen, der alten Nachbarin mit den Einkäufen behilflich sein. Wir verbringen so viele Zeit mit Kritiken und Zweifeln, dass man gar glauben könnte, die Menschheit hat verlernt zu leben.
Harrys Arm liegt locker über meiner Schulter, gedankenverloren streicht er behutsam darüber, was mir ein weiteres Lächeln entlockt. Ich wage es kaum, den Gedanken zuzulassen, aber die Nacht, von der ich dachte, sie wird eine der härtesten meines Lebens, nimmt gerade einen erstaunlich positiven Lauf. Und ich möchte nichts lieber tun, als dies dankbar und zufrieden zuzulassen. Doch erst möchte ich das Gespräch zu Harry suchen. Eine letzte Absicherung, bevor ich ihm gehöre. Bin ich verrückt, zuzulassen, dass er mein Leben komplett auf den Kopf stellt? Sicherlich. Bereue ich es? Niemals. Das Leben ist zu kurz, um alles Neue und möglicherweise Gute von sich abzuhalten.
"Harry?", frage ich also leise in die Stille hinein, ich sehe ihn nicht an, ich stelle mit ihm den Kontakt her, indem ich seine Hand sachte streichle. "Louis", erwidert er mit seiner samtig tiefen Stimme. In ihr höre ich die stumme Aufforderung, weiterzusprechen heraus, was ich auch tue. Ich atme tief durch. "Was ist mit dir?", erkundige ich mich leise. "Wieso sitzt du hier in diesem Bus nach Las Vegas, wieso tust du das alles, was du hier tust und was ist deine Geschichte? Was steckt hinter der Person Harry Styles? Und was steckt hinter all den liebevollen Gesten, hinter sämtlicher Motivation und Positivität?"
Harry nimmt einen tiefen Atemzug. Es ist mehr ein Seufzen, aber er wirkt nicht angespannt, also kann ich es nicht wirklich einschätzen oder beurteilen. "Wer bin ich?", lässt er nach einer Weile verlauten, sein Blick reicht weit über die anderen Sitzreihen vor uns. Er starrt ins Leere. Und doch wirkt sein Blick so voll, so zielgerichtet und vollkommen zufrieden mit dem, was er erblickt. Aber das kann nicht alles sein. Jemand wie Harry, ein junger Mann mit einer solchen Ausstrahlung, einer solchen Persönlichkeit kann nicht ein Niemand sein? Er ist nicht dieser Mr. Nice Guy von nebenan - Typ, Harry ist mehr. Viel mehr. Und ich brenne darauf, zu wissen, was und wer er ist.
Harry wirkt sehr intelligent und sehr besonnen. Mir ist längst aufgefallen, dass er alle seine Worte sorgsam auswählt, es wirkt jedoch niemals anstrengend oder gefaket, Harry ist einfach authentisch. Und das bewundere ich sehr. Immer wieder bewegen sich seine Kiefermuskeln, als er überlegt, den Mund zu öffnen, sein Blick schärft sich und wird wieder träge. Er ist ein wandelndes Kunstwerk und die gesamte Welt ist Atelier seines Schaffens.
"Ich kann dir keine hundertprozentig genaue Antwort geben, wenn ich ehrlich bin", fängt er an zu reden, "ehrlich gesagt, habe ich nie wirklich einen Gedanken daran verschwendet, bis ich in diesen Bus gestiegen bin. Bis ich dich getroffen habe. Davor war ich wahrscheinlich einfach immer nur Harry. Der Lockenkopf mit den vielen Tattoos und schwachsinnigen Träumen." Er lacht leise und ich mustere ihn genau. "Wieso sind sie schwachsinnig?", frage ich ihn murmelnd und ziehe die Stirn in Falten. Das ist genau der Grund, weshalb Tagträumer und Weltenbummler verloren gehen und ihre Identitäten verlieren. Die Gesellschaft verbietet mit strengen Regeln und strikten Gesetzen ihre schier endlose, freiheitliche Kreativität.
"Ich wollte schon als Teenie weg aus L.A., am liebsten nach London. England hat sich schon sehr früh in mein Herz geschlichen und ist nie mehr von dort verschwunden." Er lächelt leicht, allerdings wirkt sein Miene traurig und bedrückt, was auch mich schlucken lässt. "Und wieso bist du dann nicht dorthin gegangen? Du bist doch schon fertig mit der Schule oder?", frage ich nach. Harry lacht rau. Doch es klingt verbittert und lässt mir einen Schauer über den Rücken kriechen.
"Ich habe mich heimlich beim London Art College beworben, als ich wusste, ich würde meinen Abschluss bestehen." Ich sehe Harry an und merke, wie er in eine Erinnerung abdriftet. Sein Blick ist voller Schmerz und Reue. Es bringt mich um. "Ich wurde genommen", haucht er, "hab sogar ein Stipendium angeboten bekommen." Er wischt sich kurz über die Augen und ich überlege, wie ich ihm am besten jetzt mein Mitgefühl ausdrücken kann. Ich will genauso für ihn da sein, wie er es die ganze Zeit für mich war.
"Ich war mir sicher, meine Mum würde es wenigstens jetzt erlauben, wo ich doch einen Weg für die Finanzierung gefunden hatte", seufzt er, dann lacht er wieder, er wirkt wie ein verlassener, kleiner Junge, "aber da lag ich wohl falsch." Sein Blick wird starr und kalt und selbst als sich meine Finger zwischen seine schieben, reagiert er nicht, was mir eine Heidenangst einjagt. "Harry?", erkundige ich mich vorsichtig, "was ist dann passiert?"
"Sie ist vollkommen ausgetickt und hat mir das mit Abstand Wertvollste genommen, das ich je besessen habe." Ich presse meine Lippen aufeinander, all die Trauer und der Schmerz ist ihm anzusehen, er leidet noch immer. "Was hat sie dir genommen, Haz?" Meine Stimme ist leise, vorsichtig, doch jetzt will ich nicht aufgeben. Weil es eben Harry ist. Harry gibt man nicht auf. Jedenfalls tut das keiner, der bei klarem Verstand ist.
"Einen Stift, den mir mein Vater mal geschenkt hat und die Freude am Zeichnen. Das hat sie mir genommen. Wenn du mir jetzt einen Stift und ein Blatt hinlegen würdest, ich wüsste nicht mal, ob ich einen Baum zeichnen könnte." Harry zuckt uninteressiert mit den Schultern, er wirkt abwesend und meine Panik verstärkt sich. Es klingt so endgültig, so gehässig und dennoch so monoton, dass ich sprachlos bin. Was unfair ist, denn Harry hat mich in den wenigen Stunden hier geradezu mit Worten überhäuft und ich kriege keinen richtigen Satz heraus.
Also frage ich vorerst einfach weiter. "Wieso bedeutet dir dieser Stift denn so viel und wieso hat sie ihn dir genommen?" "Sie hat ihn zerbrochen, weil ich damit das Zeichnen angefangen habe und es das Einzige war, was mir von meinem Vater noch geblieben ist", erwidert Harry vollkommen ruhig, ohne jegliche Emotionen. Meine Kehle wird staubtrocken und ich habe das Gefühl, alles in mir wird taub. "Dein Papa ist tot?", frage ich leise nach, nur um mich zu vergewissern. Langsam nickt Harry, seine Augen füllen sich mit Tränen. "Ich vermisse ihn so sehr", haucht er, seine nächsten Worte werden von Schluchzern überrollt, die seinen Mund unkontrolliert verlassen.
Ich bin nie gut mit Worten gewesen. Zumindest nicht unter solchen Umständen, wenn es mich selbst wahnsinnig belastet und es mir so nahe geht. Wenn ich sehe, dass jemand leidet, der mir wichtig ist, mit dem ich fühle, für den ich fühle. Also ziehe ich ihn sanft an meine Brust, drücke ihm immer wieder sanfte Küsse aufs Haar und platziere meine Hand so auf meinem Rücken, dass ich ihn streicheln kann. Er soll wissen, dass er nicht alleine ist. Nicht solange ich hier bin. Und es ist okay. Mehr als das. "Es ist gut, dass du es rauslässt, dass du mit mir darüber sprichst und dass du weinst, Haz", flüstere ich leise und drücke ihn noch etwas mehr an sich.
Er reagiert nicht, sein gesamter Körper bebt noch. Doch auch das ist in Ordnung. "Du bist der stärkste Mensch, den ich kenne. Und ich bin verdammt stolz auf dich."
Meine Hand entzieht sich seiner, was ihn wimmern lässt, doch ich schnappe mir nur schnell mein Handy, stöpsele wieder die Kopfhörer in jeweils eines seiner Ohren und in eins meiner. Dann suche ich ein Lied heraus und klicke auf Play. Es erscheint vielleicht surreal, vielleicht passt es auch nicht zu dem Bild, das wir gerade abgeben, aber ich höre mich singen. Und ich hoffe, Harry tut dasselbe. Denn das Lied ist im Moment einfach nur für ihn. Es ist das einzige Geschenk, das ich ihm gerade machen kann, ohne dass es unpassend erscheint.
Wish that you could build a time machine
So you could see
The things no one can see
Feels like you're standing on the edge
Looking at the stars
And wishing you were them
What do you do when a chapter ends?
Do you close the book and never read it again?
Where do you go when your story's done?
You can be who you were or who you'll become
Oh-oh-oh, oh-oh-oh oh, if it all goes wrong
Oh-oh-oh, oh-oh-oh oh, darling just hold on
The sun goes down and it comes back up
The world it turns no matter what
Oh-oh-oh, oh-oh-oh oh, if it all goes wrong
Darling, just hold on
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Accidental Passengers (larry stylinson)✔
Fanfic"Was soll das werden, Harry?" "Das, mein Lieber, wird der Soundtrack unserer Begegnung." Dedicated to @ZiamSyndrom. Cover by @gunsandstyles- ©supergeilniall, 2017