Der Flug war unangenehm gewesen. Andrew und ich hatten kaum gesprochen. Normalerweise wäre das nicht ungewöhnlich gewesen, da wir in letzter Zeit sowieso nicht viel sprachen. Aber gerade jetzt begriff ich noch mehr als sonst, dass wir als Familie zusammenhalten mussten, was wiederum eher schlecht funktionierte, wenn man sich anschwieg.
So war es verständlich, dass mich der Gedanke nicht verlassen wollte, dass Kyle sich nicht wohlfühlen würde bei uns. Wir könnten keine Familie werden, wenn wir nicht endlich zu reden beginnen würden.
Gerade stolperten Andrew und ich durch die überfüllte Halle, während ich mit einer Hand den Koffer und der anderen mein Handy an mein Ohr hielt.
„Ja, ich melde mich heute Abend bei Malia. Ich hab schon allen Bescheid gegeben, dass wir in Atlanta gelandet sind.", murmelte ich in mein Telefon.
Am anderen Ende war Liam zu hören, der mich schon seit fünf Minuten in ein Gespräch verwickelt hatte.
„Dann werde ich jetzt auflegen. Mason sollte gleich hier sein.", erklärte er mir und so verabschiedeten wir uns kurz, bevor ich merkte, wie nervös ich eigentlich wirklich war.
„Da seid ihr ja endlich!", rief meine Tante Emily freudig und wenig später lag ich in ihren Armen, „Gott, Alicia! Du bist ja wirklich groß geworden."
„Soll vorkommen in fast 16 Jahren.", scherzte ich, als wir uns lösten und während Emily zu Andrew ging, musterte ich den Jungen hinter ihr, der immer wieder nervös durch die Gegend sah.
„Du bist dann also Kyle.", erkannte ich und ging vorsichtig auf ihn zu.
Er nickte.
„Und du Alicia."
Ich nickte.
Er sah aus wie meine Mom. Von den Augen, bis zu den Grübchen waren sie quasi identisch.
Wir wussten beide nicht so recht, was wir tun sollten, weswegen wir um so glücklicher waren, als Emily schließlich vorschlug zu gehen.
☾☾☾☾☾
Als wir abends am Esstisch saßen, war mir furchtbar schlecht. Emily erzählte fast pausenlos von Mom und auch wenn ich wusste, dass sie dies nur tat, um irgendwie mit dem Verlust ihrer Schwester klar zu kommen, hielt ich es so langsam nicht mehr aus.
„Wisst ihr, eure Mom hat in ihrer Jugend immer geschrieben. Von verschiedensten Dingen. Schade, dass ihre Bücher nie an die Öffentlichkeit gelangt sind. Sie war wirklich gut.", brabbelte Emily und ich merkte, dass sie, während sie so in ihrem Essen herumstocherte, mit den Tränen kämpfte.
Wieder dachte ich an Mom. Ich konnte mich daran erinnern, dass sie mir früher abends immer aus diesen selbst erfundenen Kinderbüchern vorgelesen hatte. Ich fand sie furchtbar spannend, auch wenn ich mich nicht mehr wirklich an den Inhalt erinnern konnte.
Sofort spürte ich, wie mir die Tränen kamen, weswegen ich etwas ruckartig aufstand und anstatt mich zu entschuldigen, murmelte ich: „Ich kann das nicht."
Damit ging ich vom Tisch weg und ignorierte Andrews Bitten, dass ich bleiben sollte, schnappte mir meine Jacke und verließ geradewegs das Haus meiner Tante. Es war nicht so, dass ich es nicht wollte. Ich wollte wirklich Anschluss finden zu Kyle und Tante Emily endlich wirklich kennenlernen und nicht als ferne Erinnerung im Kopf haben, aber ich konnte es einfach noch nicht.
Ich lief den Weg hinter Emilys Haus entlang und erstaunlicherweise fand ich, ganz in der Nähe, hinter einem Gebüsch einen kleinen See. Er war wirklich nicht sehr groß, aber hatte einen Steg. Dieser war schon etwas mitgenommen, aber das war mir egal. Ich ging ihn entlang und setzte mich am vorderen Ende hin.
Es tat mir so unglaublich weh irgendwelche Geschichten mit meiner Mutter zu hören. Nicht, weil ich mich nicht freute, im Gegenteil, jede glückliche Erinnerung von Leuten an Mom hielten sie irgendwie im Hier und Jetzt. Ich erwischte mich nur immer wieder dabei, wie ich merkte, dass ich eifersüchtig wurde. Ich fühlte mich so, als hätte ich beinahe keine Zeit mit ihr gehabt. Es war einfach nicht fair.
Ich merkte, wie mir heiße Tränen die Wangen hinunterliefen, doch ich machte keine Anstalten diese wegzuwischen. Leider war die ganze Familiensache nicht das Einzige, was mich gerade belastete. Da waren noch meine Freunde in Beacon Hills. Im Flugzeug hatte ich endlich angefangen die letzten Wochen zu verarbeiten und hatte dabei bemerkt, wie wenig ich diese Leute eigentlich kannte. Ich bekam das Gefühl einfach nicht los, dass sie alle nur meine Freunde geworden waren, weil die Situation uns dazu zwang. Ich hatte tatsächlich irgendwo Angst, dass sie mich vergessen würden, jetzt, wo ich ein halbes Jahr nicht mehr in Beacon Hills sein würde.
Meine Gedanken wanderten wieder zu Scott. Ich wusste, dass ich ihn unglaublich gern hatte und ihn auch relativ gut kennengelernt hatte, aber ich war mir nicht sicher, ob ich wirklich in ihn verliebt war und außerdem war da noch Kira, die ich ebenfalls sehr mochte. Ich hoffte wirklich, dass ich mit Scott reden konnte, wenn ich wieder zurück war.
Ich wünschte mir gerade jetzt nichts sehnlicher als eine Umarmung von Mom und ihren Rat. Damals, als die Sache mit Brett seinen Anfang fand, war sie die Einzige, die mir wirklich immer zur Seite stand. Sie war in gewisser Weise meine beste Freundin gewesen, immerhin hatte ich an der Devenford nicht wirklich Leute gehabt, mit denen ich mich gut verstand.
Ich atmete frustriert durch, als ich auf einmal Schritte hinter mir hörte. Nur ein kurzer Blick genügte, um zu erkennen, dass es sich dabei um Kyle handelte. Er trottete stumm zu mir und setzte sich neben mich. Lange Zeit machte keiner von uns beiden Anstalten etwas zu sagen.
Auf einmal meinte er etwas unbeholfen: „Schon heftig."
Ich nickte nur leicht lächelnd. Auf der einen Seite war es befremdlich für mich zu wissen, dass der Junge neben mir mein Bruder war und wir uns gar nicht kannte, aber auf irgendeine Art und Weise hatte er trotzdem diese Ausstrahlung, als würde ich ihn schon ewig kennen.
„Wie alt bist du eigentlich? Emi hatte nicht so wirklich Zeit mich einzuweihen, immerhin kam die Nachricht, dass ihr kommt recht plötzlich.", sagte er dann und wirkte weniger nervös als vorhin.
„17, du?" – „15." – „Cool, ein guter Freund von mir ist auch so alt wie du."
„Geht er dann auch auf dieselbe Schule wie wir?", wollte Kyle wissen und ich nickte. Ich sprach natürlich von Liam. Ich war mir sicher, dass die beiden gute Freunde werden würden.
Wieder war es für einige Minuten ruhig und wir beide sahen einfach nur auf den See hinaus, während die Sonne langsam unterging.
Irgendwann seufzte ich und sah ihn an. Auch sein Blick ging zu mir und wir lächelten kurz unbeholfen, bevor er mich fragte: „Wie war Mom so?"
„Ne tolle Mom. Ehrlich. Aber sie war nicht annähernd so witzig wie Emi. Zumindest, wenn man nach dem geht, was ich bis jetzt von unserer Tante gehört habe.", erklärte ich ihm und er lachte deswegen leicht.
„Dafür war sie sicher weniger verpeilt.", wollte Kyle argumentieren, was mich grinsen ließ. Ich musste sofort daran denken, als Mom vor einigen Jahren einen Kuchen hat verbrennen lassen, weil ihr Lieblingssänger in einer Talkshow war und sie es nicht übers Herz brachte, sich von Bildschirm abzuwenden.
„Dafür würde ich meine Hand nicht ins Feuer legen.", entgegnete ich ihm deswegen ehrlich, was dazu führte, dass wir beide lachen mussten.
Als wir uns wieder beruhigt hatten, wurde ich nachdenklich, bevor ich sagte: „Du erinnerst mich an sie." – „Wirklich?"
Ich nickte. Dann wurde es wieder ruhig, während wir beide in Gedanken waren. Als es schon fast dunkel war, drehte sich Kyle dann zu mir und sah mich an, bevor er sagte: „Hör zu, Alicia. Ich weiß, dass wir beide etwas Zeit brauchen werden, bis wir uns an die Situation gewöhnt haben aber ich möchte, dass du weißt, dass ich da bin. Ich weiß auch, dass ich das Ganze mit Mom nicht so fühlen kann wie du... Immerhin bist du mit ihr aufgewachsen, während ich mein Leben hier hatte. Ich will trotzdem, dass du weißt, dass ich genauso den Willen habe, eine Familie zu werden und wir das hinkriegen."
„Wir schaffen das schon.", murmelte ich leise und legte ihm eine Hand auf die Schulter, bevor wir uns dazu entschieden wieder ins Haus zu gehen, da es kalt wurde.
So ging schließlich der erste Abend mit meinem Bruder zu Ende und es sollten noch viele davon kommen...
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I WANT YOU TO SCREAM ¹
Fanfiction[TEIL 1/4] Alicia McClark wusste vielleicht schon lange, dass etwas nicht mit ihr stimmte, da nicht unbedingt jeder den Tod anderer Menschen voraussah, wenn er schlafen ging. Doch niemals hätte sie gedacht, dass sich ihr Leben so schnell und drastis...