Kapitel 1 - Will

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Will wurde von einem sehr gelangweilten Mädchen durch die Schule geführt und versuchte sich alles zu merken. Kantine dort, Büros da. Er klammerte sich an seinen Stundenplan und folgte dem Mädchen durch die unbekannten Korridore. 

„Und hier ist dein Spind", schloss sie die Tour ab. „Wenn du Fragen hast, im Schülerbüro ist immer irgendwer." 

„Okay", sagte Will nervös. 

„Die Kombination hab ich dir auf die Karte geschrieben, aber ändere die am besten noch mal", fügte sie hinzu, ehe sie sich aus dem Staub machte und Will mit seinem angeschlagenen neuen Spind alleinließ. Er schaute die Kombination nach und hatte dann Schwierigkeiten, den Spind aufzukriegen, weil er natürlich klemmte. Hinter ihm lachte irgendjemand. Ruhelos strich er sich immer wieder dieselbe blonde Haarsträhne aus der Stirn und bekam schließlich sein Schließfach mit Gewalt auf. Er wollte gerade seine Jacke verstauen, als ihm etwas am Boden des Spinds ins Auge fiel. Neugierig hob er es auf. Es war ein Foto von einem hübschen Mädchen mit dunkler Haut und wilden schwarzen Haaren. Auf die Rückseite hatte jemand ein Datum und ein Herz gemalt. Will erwiderte das Lächeln des Foto-Mädchens und steckte das Bild neben seinem Stundenplan in seine Mappe. Dann schloss er den Spind und machte sich etwas desorientiert auf die Suche nach dem Klassenzimmer, wo sein Unterricht in Amerikanischer Geschichte stattfinden sollte. Er kam als letzter an und musste durch die Reihen nach vorne gehen, wo der Lehrer, ein älterer Mann mit schütterem grauen Haar, bereits abwartend hinter dem Pult stand.

 Alle starrten ihn an und begannen zu tuscheln. Will hasste es, irgendwo neu zu sein. Er schaffte es nie, richtig dazuzugehören. Nicht mehr lange, sagte er sich, zwei Jahre noch, dann ist die High-School endlich vorbei.

„Hallo", sagte er leise zu seinem Geschichtslehrer. „Ich bin –" 

„Wenn du willst, dass ich dich höre, musst du schon lauter sprechen", entgegnete der Lehrer, sodass alle im Klassenzimmer es hörten. 

Will lief rot an und versuchte es noch mal. „Ich bin Will Fleming, ich bin –" 

„Der Neue, jaja. Hier, dein Buch, jetzt setz dich hin." 

Will nahm eilig das Buch an, stolperte über seine eigenen Füße und ließ sich auf den erstbesten freien Sitzplatz in der zweiten Reihe fallen. Mit hochrotem Kopf starrte Will auf die Tischplatte, während der Lehrer vorne zu sprechen begann. 

„Mein Name ist Mr. Vincent, für alle, die mich noch nicht kennen. Ob ihr angenehme Sommerferien hattet oder nicht, ist mir egal, ich will also keine Gespräche darüber hören. Das gilt auch für dich, Dylan." 

Ein Junge in der letzten Reihe zeigte einen Daumen nach oben und grinste. 

„Wir beschäftigen uns hier mit dem Bürgerkrieg und ich erwarte gute Mitarbeit von jedem von euch." 

Bürgerkrieg? Schon wieder? Es war als hätte die amerikanische Geschichte sonst gar nichts zu bieten. Will wusste alles über den Bürgerkrieg und würde sich hier wahrscheinlich das ganze Jahr über langweilen. Besser als durchzufallen, immerhin. Trotzdem war ihm sein Auftritt von vorhin so peinlich, dass er die ganze Stunde kein Wort sagte und erleichtert aufatmete, als die Klingel das Ende der Stunde verkündete. 

Will suchte sich seinen Weg zurück zu seinem Spind, öffnete ihn mit denselben Schwierigkeiten wie beim ersten Mal und verstaute sein neues Geschichtsbuch neben seiner Jacke. Danach lehnte er sich eine Weile einfach am geschlossenen Spind an und wünschte sich inständig der Tag wäre schon vorbei und er könnte sich in seinem Bett verkriechen. 

Ein Mädchen mit Highheels kam an ihm vorbei und warf ihm einen mitleidigen Blick zu. Schon klar, dachte er sich. Schönheitsköniginnen wie die hatten noch nie viel für ihn übrig gehabt und das beruhte auf Gegenseitigkeit. Er war weder groß noch sportlich, spielte lieber Schach als mit Leuten zu reden und hatte sich noch nie für Mädchen interessiert. Leute wie er hatten es schwierig, Freunde zu finden, das war überall so und er musste sich damit abfinden. 

Ehe er sich auf den Weg zu seinem nächsten Unterricht machte, schickte er eine Nachricht an seine beste Freundin Tina. 

>Ich hasse alles, bitte komm und erschieß mich. 

Tina konnte leider nicht einfach vorbeikommen, sie wohnte hunderte Meilen weit weg, war gerade in seiner alten Schule, wo die Spinde einfach zu öffnen waren und wo er wusste, wo welches Klassenzimmer war. Und er war jetzt hier und vermisste sie unheimlich. 

<So schlimm? Später Skype? :*

>Ich bitte darum! 

Danach steckte er das Handy weg und schleppte sich zu Literatur.

So ging es den ganzen Tag weiter. Das vegetarische Mittagessen bestand aus Nudeln mit Tomatensoße. Er vermisste frisches Gemüse und Salat. Das erzählte er natürlich niemandem, höchstens Tina. Mit wem hätte er auch reden sollen? Er hatte einen Tisch für sich allein, bis sich die Schönheitskönigin von vorhin und eine ihrer Schönheitsprinzessinen ans andere Ende setzten und ihm höchstens mal einen Blick zuwarfen, als wäre er eine Schnecke, und sie wollten sicherstellen, dass er ihnen nicht zu nahe kam. 

In der letzten Stunde hatte Will einen Kurs über wissenschaftliches Arbeiten und da traute er sich endlich, seinen Sitznachbarn anzusprechen. Es war ein rothaariger Junge, der auf seinem Stift kaute, aber Will überwand sich trotzdem. 

„Ehm, hi", sagte er. „Sorry, kennst du zufällig dieses Mädchen?" Er schob dem Jungen das Foto aus seinem Schließfach zu. 

Er warf nur einen kurzen Blick darauf und fragte: „Woher hast du das?" 

Will erzählte ihm die Wahrheit und der Junge lachte. „Oh, dann hast du also den verfluchten Spind abgekriegt. Mein Beileid, Kumpel." 

Will starrte ihn so lange fragend an, bis der Typ sich bequemte, ihm das zu erklären.
„Das auf dem Bild, das ist Riley Henson. Sie hat sich letztes Jahr umgebracht." 

Will musste schlucken. „Oh mein Gott." Er hatte den Spind eines toten Mädchens bekommen und darin ein Foto von ihr gefunden? Wie schräg war das denn bitte? 

Die ganze Stunde lang schaute er immer wieder das Bild an und fragte sich, was Riley wohl passiert war, dass sie sich umgebracht hatte. Er konzentrierte sich kein bisschen auf den Unterricht und war überrascht, als am Ende die Glocke läutete. 

„Hey, warte kurz." Der rothaarige Junge hielt ihn auf, als Will gehen wollte. „Ich bin übrigens Tyler." 

Will lächelte schief. „Ich bin Will." 

„Ich wollte nur sagen, mach dir keinen Kopf wegen Riley." 

Will nickte einmal. „Danke." 

„Ich mein, klar ist das alles schlimm. Anscheinend wurde sie gemobbt, weil sie lesbisch war. Aber das kann dir ja nicht passieren." Tyler klopfte ihm auf die Schulter, warf sich seinen Rucksack über und ließ Will völlig verdattert stehen. 

„Oh mein Gott", sagte Will wieder und in diesem Moment geschah etwas Unfassbares. 

Eine fremde Jungenstimme wiederholte seine Worte in seinem Kopf, als hätte er eine zweite Persönlichkeit. Er musste sich setzen. 

Was zum Teufel?! Will schickte den Gedanken in die Ecke seines Hirns, aus der gerade die Stimme gekommen war. Er musste es sich eingebildet haben. 

Doch dann: Verschwinde aus meinem Kopf!

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