Kapitel 14

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Als der in schwarz gehaltene Mann in Ritterrüstung über den Schutthaufen stieg, fielen Anthony seine graziösen Bewegungen auf. Ganz als wäre er ein Tänzer, oder ein erfahrener Kämpfer.
Bei näherer Überlegung doch eher Kämpfer.
Anthony´s Schädel brummte weiterhin, und er konnte nicht klar denken. Das Adrenalin in seinem Blut, die Energie des Teilchenbeschleunigers und die Wucht der Explosion ließen sein Hirn entsetzlich langsam werden. Das einzige was er wirklich realisierte waren die Bewegungen des Mannes, oder der Frau, bei der Rüstung schwer zu erkennen, die Rauchschwaden und den Professor der in der Ecke lag. Immer noch bewusstlos.
Der Ritter kam auf Anthony zu, und dieser wich langsam aber stetig vor ihm zurück, immer weiter in die Mitte des Raumes.
Zum Podest.
Und zu dem Buch.
Als Anthony gegen das Podest stieß kam das so unerwartet, dass ihm ein leises Wimmern entfuhr.
Der Ritter blieb abrupt stehen. Nur wenige Zentimeter vor Anthony.
Für eine entsetzlich lange Minute standen sie sich gegenüber ohne das beide etwas sagten oder taten. Anthony analysierte den Ritter von Kopf bis Fuß. Er war größer als Anthony. Trug eine Rüstung und eine Schwertscheide.
Jedoch ohne Schwert. In den Händen hielt er auch keines. Er schien wirklich unbewaffnet.
Bis auf die Stacheln an seiner Rüstung. Und die Muskeln an seinem Körper, die sogar unter der schweren Rüstung noch erkennbar, oder eher, erahnbar waren.
Der Atem des Ritters ging ruhig und gleichmäßig, während Anthoy´s hingegen so flach war wie ein Flunder. Sein Herz raste und er schwitzte aus unerfindlichen Gründen.
Die physische Belastung war nicht das Problem. Die Psychische war es. Es fühlte sich für Anthony so an, als würde jemand in seinem Hirn herumwühlen und seine kognitiven Fähigkeiten beschränken.
Aber es fühlte sich auch so an als würde etwas zu Tage gefördert. Etwas das Anthony total vernachlässigt hatte und eigentlich nicht in der Lage fühlte zu bewältigen.
Die Schriftrolle.
Die Schriftzeichen erschienen erneut vor Anthony´s Augen. Sie schwebten zwischen ihm und dem Ritter in der Luft und setzten sich zusammen. Sie fingen an sich neu zu ordnen und sich mit den neuen Erkenntnissen zu vermischen. Die Schriftzeichen aus dem Buch überlagerten sich mit denen von der Schriftrolle und begannen sich zu übersetzten.
Mit der Hilfe von Wahrscheinlichkeiten übersetzte Anthony´s Hirn sogar die Zeichen, von denen er nicht wusste was sie bedeuteten. Wörter begannen sich zu bilden.
Lesbare Wörter.
Wörter wie Bruderschaft, Wissen und Macht. Unvorstellbare Macht.
Jedoch sträubte sich ein Satz sich übersetzen zu lassen. Er schwebte einfach in der Luft und machte keine Anstalten sich zu übersetzen. Der Rest hatte sich kooperativ verhalten, doch dieser Satz ließ sich nicht klein kriegen.
Hinter den Buchstaben erkannte Anthony einen neuen Umriss. Jemand stieg hinter dem Ritter über den Schutt und betrat den Raum. Er näherte sich langsam dem Ritter. Die Person hob die Hände und wollte den Ritter packen.
Doch als hätte der Ritter Anthony´s Gedanken gelesen drehte er sich um, sah dem fremden direkt in die Augen, dann noch einmal Anthony, und verschwand auf der Stelle.
Der Fremde griff ins leere und das einzige was der Ritter zurück ließ, war die Erinnerung an seine tiefblauen Augen.
Der Fremde stand nun vor Anthony. Braun gebrannt, groß und muskulös und gut aussehend.
Zumindest soweit Anthony das beurteilen konnte.
Er sah sich im Raum um. Angespannt. Bereit sich zu verteidigen. Die Hände zu Fäusten geballt und die grünen Augen jede Ecke absuchend stand er da.
Bei Berücksichtigung der Sachlage wahrscheinlich Anthony´s Lebensretter.
Dann blieb der Blick des fremden auf Anthony liegen.
Warum interessierte sich bloß plötzlich jeder für ihn?
Auch in der Schulzeit war so etwas ähnliches wie eine Attraktion gewesen, aber es war bei weitem nicht so gefährlich gewesen. Es waren nirgends Sachen explodiert und niemand wurde von umherfliegenden Ziegeln bewusstlos geschlagen.
Aber all das hatte er sich selbst eingebrockt mit seiner unendlichen Neugierde.
Der Mann riss sich von Anthony´s Anblick los und ging zu Hedgewig. Er prüfte seinen Puls und warf ihn sich über die Schulter. Im vorbeigehen rief er Anthony etwas zu.
Seine Stimme war kratzig und heiser. Und für einen Mann seiner Größe viel zu hoch.
„Folge mir…“
Er musterte Anthony noch einmal von oben bis unten.Und dann, nach einer kurzen Pause, fügte er widerstrebend hinzu:
„Auserwählter.“
Er schaute Anthony noch kurz durchdringend an und lief dann aus dem Raum. Hedgewig weiter auf den Schultern tragend.
Und wieder einmal, wie sollte es auch anders kommen, verlangte seine unnachgiebige Neugier von Anthony, dass er dem fremden folgte.
Und wie jedes einzelne Mal in seinem Leben, gehorchte Anthony seiner Neugier.
Er erhob sich vom Boden, und sofort setzten bei ihm heftige Kopfschmerzen ein. Er rieb sich die rechte Schläfe und es tanzten wieder weiße Punkte vor einem inneren Auge.
So bekam er gar nicht erst mit das sich die Dunkelheit aus den Ecken heraus wieder einmal anschlich.
Sie floss über den Boden und erstreckte ihre Fühler zu allen Seiten. Sie kam stetig näher und Anthony bemerkte es nicht einmal. Er wollte gerade aus dem Raum heraus, als ein schwarzer Tentakel aus Dunkelheit direkt vor seinem Kopf explodierte.
„UAH!“,entwich es Anthony.
Er stolperte rückwärts und fiel erneut gegen das Podest des Buches. Er warf es aus Versehen herunter und es landete direkt vor seinen Füßen. Ungeöffnet lag es dort und vibrierte erneut. Die Inschriften und Verzierungen schienen sich zu bewegen. Ganz wie gehabt.
Als er sich vom Anblick des Buches losriss machte er sich fast in die Hose. Überall um ihn herum war nichts als Dunkelheit. Es war kurios. Keine Lichtquelle weit und breit in Sicht, doch rund um das Buch herum, kam die Dunkelheit nicht voran.
Sie versuchte es mit aller Anstrengung. Sie holte immer wieder weit aus, doch prallte einfach so in der Luft ab.
Fast als wäre das Buch ihr Nemesis. Oder Anthony.
Er umklammerte das Buch so fest wie sonst noch nie einen Gegenstand. Als er es Richtung des Ausgangs bewegte, nur einen einzigen Zentimeter weit, wich die Dunkelheit vor dem Buch zurück. Zwar sich sträubend und hin und wieder entfuhr dem Raum ein zischen, so als ob Wasser kochen würde, doch trotzdem wich sie zurück.
Das gab Anthony Hoffnung. Er fasste erneut seinen Mut zusammen und stand mit dem Buch in der Hand auf.
Die Dunkelheit wich.
Er machte einen Schritt nach vorn.
Und die Dunkelheit wich erneut.
Jedoch schloss sich die Wand aus Dunkelheit direkt hinter ihm. Unerbittlich und ohne jedes Geräusch. Jedes Licht das hätte dort sein können, wäre sofort verschlungen worden. Nichts entkam dieser Dunkelheit. Das konnte Anthony spüren.
Er machte immer weiter seine kleinen Schritte in Richtung Ausgang.
Dem Ausgang aus dieser Hölle. Und dem Eingang zu weiteren Geheimnissen.
Er schritt über den Schutt und trat aus dem Raum heraus. Er durchquerte den schwarzen Flur und ging die Treppe hinauf. Oben angekommen wurde es so urplötzlich wieder taghell, dass ihm die Augen schmerzten.
Anthony senkte das Buch und sah zur Haustür. Sie war geöffnet und helles Tageslicht flutete die kleine Diele. Während Anthony sich noch an das Licht gewöhnte, schien das Buch seinen eigenen Plan zu haben.
Es schien so stark zu vibrieren, dass Anthony es kaum noch halten konnte. Er hielt es vor sich und sah es eindringlich an.
Entweder schien es ihm durch die Kopfschmerzen nur so, oder das Buch schrumpfte wirklich zwischen seinen Händen. Es wurde von dem dicken, unhandlichen Wälzer, zur transportablen und Taschenbuch Format besitzenden Version seiner selbst.
Perplex und benommen fragte er nicht weiter nach und steckte es einfach in die Hosentasche. Dann machte er sich daran wegzukommen.
Er stürmte aus der Tür und wollte eigentlich die Straße entlang rennen und erst zuhause wieder anhalten, wurde jedoch von jemandem Kragen gepackt und in die Scheune gezerrt.
Jeder Versuch sich zu wehren schlug fehl. Es war als hätte jemand einen Schraubstock an seinem Kragen festgemacht und würde ihn mit einer Autowinde einziehen.
Und bei alledem war wieder einmal alles was er sich fragte:
Warum war es schon wieder helllichter Tag?
Seit dem Gang in den Keller konnte höchstens eine drei-Viertel-Stunde vergangen sein. Und zu dem Zeitpunkt als sie in den Keller gegangen waren war es noch mitten in der Nacht gewesen.
Genauere Betrachtung verdiente jedoch erst einmal der Mann, der Anthony jetzt in den gleichen Heuhaufen warf in den er auch hineingefallen war. Der Mann besaß anscheinend die Angewohnheit nicht viel zu reden, denn er sagte einfach gar nichts zu Anthony sondern ließ ihn in dem Heuhaufen liegen und machte sich daran Zeichen in den Dreck unter sich zu zeichnen.
Er trug einen schwarzen Mantel, einen Hut mit breiter Krempe und eine Anzughose. Was unter dem Mantel verboten war konnte Anthony jedoch nicht erkennen. Er sah nur noch die Schuhe. Maßgefertigt von einer italienischen Firma. Damit kannte Anthony sich aus.
Als der Mann sich bückte um ein weiteres  Zeichen in den Dreck zu schmieren, entblößte er einen Teil seiner Hüfte.
Zum Vorschein kam ein Holster mit einem Colt.
Anthony dachte nicht mehr länger nach. Er war es leid übergangen und hintergangen zu werden. Er wollte nicht mehr Rätseln. Er wollte Antworten.
Also griff er blindlings den Revolver und zog ihn aus dem Holster. Und ehe der Fremde sich´s versah, war sein eigener Revolver auf ihn gerichtet. Er sah Anthony direkt an, und dieser versuchte so ernst wie möglich zu gucken. So als wäre er zu allem bereit. Als der Fremde die Hände hob begann Anthony zu reden.
„Wer sind sie?“, fragte Anthony langsam und bedächtig. Er wusste maischt wozu der Mann fähig war und wollte lieber nichts riskieren. Jede Unaufmerksamkeit könnte fatal sein.
Der Fremde verhielt sich jedoch kooperativ. Mit seiner kindlichen Stimme begann er zu erklären.
„Mein Name ist Leonardo. Leonardo di Ancelotti. Ich bin Mitglied des Ordens. Ich bin hier um dich zu beschützen Anthony.“
Er streckte langsam die linke Hand nach dem Revolver aus.
„Verstehst du?“
Aber Anthony verstand nichts. Noch nicht. Und deswegen war er auch nicht bereit seine Machtposition aufzugeben. Kurz bevor Leonardo am Revolver war schoss Anthony in die Luft.
Der Knall war Ohrenbetäubend und der Rückstoß des Revolvers hätte fast dazu geführt das er Anthony aus der Hand geflogen wäre.
Jedoch wurde wenigstens Hedgewig dadurch wieder wach. Benommen schrak er auf und rieb sich die Augen. Als hätte er ein kleines Mittagsschläfchen gemacht. Als er Anthony mit dem Revolver sah lächelte er verschmitzt, griff aber nicht ein.
Leonardo währenddessen zog seine Hand wieder zurück und betrachtete Anthony eingehend. Er wirkte überrascht. So als hätte er das Anthony nicht zugetraut.
Und so kam Anthony wieder zum eigentlichen Thema.
„Wieso nannten sie mich Auserwählter?“
Anthony´s Miene war inzwischen Steinhart geworden.
„Das zu erklären benötigt gewiss mehr Zeit, von der wir, so leid es mir tut nicht mehr viel haben.“
„Ich habe genug Zeit. Fangen sie an zu reden.“
Anthony glich seinen Stand aus und festigte ihn. Den Revolver fest in der Hand. Kimme und Korn direkt auf Leonardo.
„Das bezweifle ich stark. Ich verspreche dir, dir wird alles klar, wenn du nur…“
Den Rest bekam er schon nicht mehr mit, als er einen Schlag auf den Kopf spürte und Boden plötzlich rasant näher kam. Das letzte was er merkte war, wie Leonardo ihn trug und sie zusammen mit Hedgewig in einen Kreis aus Schriftzeichen traten. Dann wurde alles schwarz.

Anthony Finch - Der Beginn einer ÄraWhere stories live. Discover now