36. Der Sieger: Leben oder Tod?

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Eine Viertelstunde war vergangen. Noch immer flog Ohnezahn in seiner Höchstgeschwindigkeit. Mit dieser hatten sie schon ungefähr eineinhalb Stunden eingeholt. ,,Schneller! Ich weiß, du kannst das, Ohnezahn!" Mit einer bebenden Stimme spornte Hicks seinen Drachen an. Er versteckte sich vor dem Wind, indem er sich weit nach vorne beugte und Schutz hinter Ohnezahns Schädel suchte. Da er seinen Helm vergessen hatte, konnte er durch den starken Flüge seine Augen nur sehr leicht öffnen. Er spürte, wie der Wind durch seine Haare glitt. Er spürte den Wind überall. Aber es gab ihm nicht das Gefühl von Freiheit. Nicht so, wie sonst immer. Er fühlte sich unter Druck gesetzt. Würde er es nicht rechtzeitig schaffen, diese Beere zu finden und sie zu Astrid zu bringen...Er konnte sich die Folgen nicht vorstellen. Er wollte sie sich nicht vorstellen.
Hicks riskierte einen Blick nach unten. Mit zusammengekniffenen Augen erkannte er schwach eine Inselgruppe, die sich über den Ozean streckte. Gleich mussten sie da sein. Gleich waren sie auf der Petiviinsel. Mit diesem Gedanken verzogen sich Hicks' Lippen zu einem kleinen Lächeln. Auch wenn noch lange nichts geschafft war.
Noch immer in diesen Gedanken vertieft, schaute der 20-Jährige verwundert auf, als Ohnezahn gurrte. Um gegen den Wind etwas sehen zu können, hielt Hicks sich die Hand vor das Gesicht. Seine Augen weiteten sich, als er eine große Insel vor sich sah. Voller Begeisterung rief der Drachenreiter: ,,Das ist sie! Die Petiviinsel!" Und schon befand Ohnezahn sich im Sturzflug.
Unten auf festem Boden angekommen drang das Adrenalin durch Hicks' Körper. Sofort sprang er von dem Nachtschatten, brachte ein ,,Danke, Kumpel. Du hast das super gemacht. Ruh dich vor dem Heimflug noch ganz schnell etwas aus. Ich komme gleich wieder" heraus und rannte in den vor ihm liegenden Wald. Es waren nun ungefähr 30 Minuten vergangen. Eigentlich bräuchte man um die 3 Stunden. Aber diese hohe Geschwindigkeit hatte auch seine Kosten. Denn Ohnezahn war vollkommen erschöpft.
Es dauerte mehrere Minuten. Hicks trottete durch den Wald, schaute in alle Richtungen, hielt Ausschau nach einem Busch mit Beeren. Auf der Suche kam er immer tiefer in den Wald hinein. Währenddessen wurde der Wald auch immer grüner und anschaulicher. ,,Komm schon", murmelte Hicks ungeduldig. Er hatte nicht alle Zeit der Welt. Ganz im Gegenteil. Es war schrecklich, zu wissen, dass er hier in einem Wald spazierte, während seine Freundin auf Berk die größten Schmerzen erlitt. Er durfte einfach nicht daran denken. Entschlossen kniff Hicks die Augen zusammen und suchte weiter. Überall standen Bäume, Sträucher, alles außer ein Busch mit Beeren daran. Es vergingen drei Minuten. Aus drei würden fünf. Aus fünf wurden sieben. Die Verzweiflung, die der Wikinger empfand, wurde immer größer und mächtiger.
Und dann sah er es, als er hinter einem riesigen Felsen hervorkam: Mehrere Büsche, alle voll von lila-blauen Beeren.
Überstürzt lief Hicks los und kniete neben einer der Büsche. Da es die einzigen Beeren waren, die der Mann bis jetzt auf der Insel gesehen hatte, hielt er sie für das Gegengift. Schnell pflückte er mehrere und wickelte sie in einem Tuch ein. Durch seinen ziemlich guten Orientierungsinn, fand er den Weg zu Ohnezahn wieder. ,,Ohnezahn, ich hab sie! Lass uns sofort zurückfliegen!" Auch wenn der Drache sich nicht wirklich ausruhen konnte, flitzte er, sobald sein Reiter aufgestiegen war, sofort los.
Es vergingen 10 Minuten. Und ungefähr 10 Minuten blieben noch. ,,Ohnezahn! Wir brauchen mehr Geschwindigkeit!", rief Hicks seinem Drachen zu, welcher sich vor Erschöpfung und Anstrengung schon verlangsamte. ,,Ich weiß, du kannst das! Tu es für Astrid!"
Diese Worte gaben Ohnezahn den benötigten Ansporn. Nicht nur, dass Astrid seinem Reiter sehr viel bedeutete, ließ ihn schneller werden. Immerhin hatte der Drache die Blondine auch sehr gerne.
Der Alphadrache sammelte seine letzte Energie und erhöhte das Tempo. Er wurde immer schneller und schneller. Seine Flügel setzten sich noch einmal so richtig in Bewegung. Das ganze endete in einer Spitzengeschwindigkeit. ,,Ja, genauso! Super, Kleiner!", lobte Hicks seinen Drachen.
Doch dann passierte es.
Durch die hohe Geschwindigkeit verlor Hicks das Päckchen mit den Beeren darin. ,,Nein!", entkam ihm, als das Tuch seinen Händen entglitt. Es öffnete sich und alle Beeren fielen heraus. Es geschah wie in Zeitlupe: Alle Beeren befanden sich in der Luft. Hicks war nicht dazu fähig, eine Beere zu fangen. Doch dann schnellte Ohnezahns Flügel nach oben. Er traf eine der Beeren und sie flog geradewegs in Hicks Hand. Diesem entkam ein erschrockenes Keuchen. Dann verfestigte er den Griff um die Beere. Diese würde ihm nicht mehr entkommen. ,,Das war unglaublich, Ohnezahn!" Der Held ließ ein zufriedenes Gurren hören. Dann konzentrierte er sich wieder auf das, was vor ihm lag. Da erschien schon ihre gesuchte Insel. ,,Da ist Berk! Wir haben es gleich geschafft!", rief der Wikinger voller Aufregung. Noch einmal gab Ohnezahn sein Allerbestes und beschleunigte. Hicks Nervosität stieg an und er bekam ein mulmiges Gefühl. Hoffentlich waren sie rechtzeitig gekommen.
Vor dem Haus der Haddocks war die versammelte Menge der Berkianer zu sehen. Sobald ein Wikinger Ohnezahn in der Dunkelheit der Nacht erkannte, schrie er: ,,Nachtschatten!" Alle Bewohner Berks drehten sich in die Richtung, woher die Zwei kamen. Das einzige, was Hicks' Mund entwich war ein ,,Aus dem Weg!", bevor der Nachtschatten mitten in der Gruppe landete. Die Leute hatten gerade noch rechtzeitig Platz gemacht. Als Hicks abstieg hörte er schon die ganzen Kommentare und Fragen. Die häufigsten waren ,,Hicks! Wo warst du?" oder ,,Hast du ein Gegengift oder so etwas?" Doch der Mann ignorierte alle und lief ins Haus. Im ersten Stock angekommen erblickte er die grausame Szene.
Seine Freunde, also Rotzbakke, Fischbein, Raffnuss und Taffnuss, seine Mutter, die Heilerin Gothi und Grobian standen um sein Bett herum. Sturmpfeil schaute durch das Fenster auf ihre Reiterin, die in diesem Bett lag, herab. Es hatte sich nach wie vor nichts geändert. Astrid keuchte, stöhnte, zuckte, schrie, verkrampfte sich.
,,Ich hab das Gegengift!", verkündete Hicks und hielt die Beere hoch. Da niemand ihn vorher bemerkt hatte, drehten sich alle mit erschrockenen Mienen zu ihm um. Der Braunhaarige gesellte sich auf eine hektische Art zu ihnen und kniete neben Astrid am Bettrand. ,,Du hast es wirklich geschafft?!", fragte Rotzbakke unfassbar nach. ,,Beeil dich!", kam gleichzeitig von Fischbein und Valka. Auch Gothi machte eine Geste, die dasselbe bedeuten sollte. Schnell fasste Hicks an Astrids Gesicht und drehte es zu sich. Er hatte es zwar schon vorher gesehen, doch trotzdem erwischte ihn eine Welle von Schock, als er in das Gesicht seiner Partnerin blickte.
Sie war blass. Sehr blass. Auf ihrer Stirn hatten sich Schweißperlen gebildet. Sie verzog ihr Gesicht vor Schmerz. Schnell reichte Hicks die lila-blaue Beere in ihren Mund und drückte an ihr Kinn, sodass sie ihren Mund nicht öffnen und die Beere nicht ausspucken konnte. So blieb ihr nichts anderes, als sie zu schlucken. Hicks nahm seine Hand von ihrem Kinn und beobachtete wie die anderen in Spannung und Nervosität, was als nächstes passierte. Astrid machte noch immer dieselben Geräusche wie vorher. Ihre Körperhaltung war auch sehr steif. Alles schien wie zuvor. Nichts änderte sich. Die letzte Hoffnung begann langsam ihren Weg ins unendliche Dunkle zu nehmen. Sie begann, zu verschwinden.
Doch bald löste sich Astrids Anspannung. Die Laute, die von ihr kamen, wurden weniger und weniger. Leiser und leiser. In einer nicht so verkrampften Haltung lag Astrid nun da, schaute der Decke erschöpft und den Kräften geraubt entgegen und entließ ein Keuchen nach dem anderen. Ihr schwerer Atem wurde immer leiser und ihre Brust hob sich nicht mehr so oft wie vorher. ,,H-Haben wir es geschafft?", fragte Fischbein, die Aufregung und die Fröhlichkeit konnte man seiner Stimme entnehmen. ,,Ich glaube schon", wisperte Hicks und betrachtete seine Freundin. Er nahm ihre Hand in seine und strich mit der anderen Hand über diese. Gerade wollten sich seine Lippen zu einem Lächeln verziehen, als auf einmal Gothi auf der anderen Seite des Bettes einen geschockten Ton von sich gab. Alle Blicke wurden auf sie gezogen. ,,G-Gothi?", stammelte Valka verunsichert. Mit einer zitternden Hand zeigte die Dorfälteste auf Astrid. Und dann merkte es jeder.
Astrids Zustand besserte sich nicht. Ganz im Gegenteil: Sie war gerade dabei, dem Tod zu verfallen.
Außer Fassung schraken die Anwesenden zurück, manche hielten sich entsetzt die Hände vor den Mund. Sturmpfeil krächzte vom Fenster aus entgeistert. Die Augen geweitet, beobachtete jeder, wie Astrids Atem sich immer mehr senkte. Ihre Brust hob sich nur noch ganz kurz und wenig. Sie versuchte, noch nach etwas Luft für ihre letzten Atemzüge zu schnappen. Von Panik ergriffen schrie Hicks: ,,Nein! Wir haben die Beere doch noch rechtzeitig gebracht!" Ratlos blickte er jedem der Berkianer in die Augen. Doch es kam nur die Antwort von seiner Mutter, die er nicht hören wollte: ,,Ich fürchte, es war doch...zu spät" Hastig wandte Hicks sich wieder seiner Freundin zu. Ihre Augen waren ganz wenig geöffnet. Sie blickte Hicks in die Augen. Der Braunhaarige erkannte pure Erschöpfung, Panik, aber auch eine gewisse Ruhe. Mit viel Mühe brachte Astrid noch ein ,,I-Ich w-werde...wohl st-sterben" heraus. Ihre Brust hob und senkte sich nur noch ganz leicht. Hicks hatte Angst davor, dass sie sich irgendwann senken und sich dann nie wieder heben würde. Doch er wusste, dass es unumgänglich war. Er wusste, dass dies das Ende war. Doch er wollte es nicht wahr haben.
Mit bebender Stimme rief der junge Mann: ,,Nein, Astrid, du wirst jetzt nicht gehen! Das lasse ich nicht zu! Du kannst nicht gehen! D-Du kannst uns nicht verlassen! Du kannst nicht-" Am Ende wurde Hicks immer leiser und seine Stimme zittriger.
Natürlich konnte sie.
Seine Sicht wurde etwas verschwommen. Seinen Augen drohten, Tränen zu entkommen. Die anderen anwesenden Personen begannen zu schluchzen. Sie sahen zu, wie Astrids Brust sich noch einmal hob. Dies sollte das letzte Mal sein. Hicks blickte nochmal in Astrids Augen, welche ihn visierten. Dies sollte ebenfalls das letzte Mal sein. Das letzte Mal, dass Hicks in ihre lebendigen Augen sehen konnte. Ein ganz schwaches Lächeln erschien auf Astrids Gesicht. Und dann geschah es.
Astrids Brust senkte sich. ,,Bitte nicht...Astrid...Bitte nicht...", flüsterte das Oberhaupt. Er fixierte die Augen der Wikingerin genau. Am liebsten wollte er, dass dieser Blickkontakt niemals aufhören würde. Doch dann wurden ihre Augen starr. Sie blickten vorbei an Hicks ins Leere. Ihre Hand in Hicks' wurde schwer. Ihre allerletzte Kraft verschwand. Ihre ganze Energie war ihr entnommen.
Astrid war weg. Sie war tot.
Fassungslos starrte Hicks in ihr lebloses Gesicht. Raffnuss und Taffnuss umarmten sich und weinten. Fischbein und Rotzbakke schenkten sich trübe Blicke und weinten. Genau dasselbe taten auch Valka und Grobian. Sie begannen zu weinen. Als dann das gekränkte und traurige Krächzen von Sturmpfeil in Hicks' Ohren drang, verstand er es. Er realisierte die schreckliche Erkenntnis.
,,Nein, Nein, Nein...Das kann nicht wahr sein.", stammelte er und die ersten Tränen entkamen seinen Augen. Er drückte Astrids schwer gewordene Hand, suchte nach irgendwelchen Zeichen von Leben. Doch alles, was er fand, waren starre Augen und blasse Haut. Vor ihm lag eine tote Person. Eine Person, die keine Atmenzüge mehr holte. Aber es war nicht nur eine normale Person für ihn, es war seine Freundin. Eine der Personen, die ihm am allerwichtigsten waren. Seine Partnerin. Seine Partnerin, mit der er eigentlich den Rest seines Lebens verbringen wollte. Seine Partnerin, ohne die er kein glückliches Leben führen könnte. Seine Partnerin, der er immer vertrauen konnte. Seine Partnerin, die immer für ihn da war. Seine Partnerin, für die er alles getan hätte, aber es nicht geschafft hatte. Seine Partnerin, mit der er immer Spaß gehabt hatte. Seine Partnerin, die einen großen Teil seines Herzenes eingenommen hatte. Seine Partnerin, die er über alles liebte.
,,Nein....Ich hab das Gegengift doch rechtzeitig gebracht...Warum nur musste es heute schon soweit sein...Warum...?" Sie war tot. Tot. Tot. Tot. Egal wie oft dieser Gedanke durch Hicks' Kopf flog, er wollte es nicht einsehen. Er wusste, dass es kein Zurück gab, aber er wollte es nicht. Nie und nimmer. Mit einem schweren Herzen schüttelte er Astrid ganz leicht durch. ,,Komm schon, Astrid! Ich kauf dir das nicht ab...Du kannst mich nicht verlassen...Du kannst nicht weg sein...Komm zurück...Astrid...Astrid!" Am Schluss verzagte die Stimme des Stammesoberhaupts und er ließ seinen Kopf auf das Bett fallen. Er drückte die Hand seiner Freundin und ließ seinen Tränen freien Lauf. ,,Astrid...", flüsterte er. Immer und immer wieder. Immer wieder wollte er seinen Namen von ihr hören. Er wollte eine Antwort. Aber es kam keine. ,,Warum...?"

Es war vorbei. Alles sinnlos. Sie hatten es nicht geschafft, Astrid von dieser Krankheit zu befreien. Das Spiel von Leben und Tod war vorbei. Und als Sieger trat der Tod hervor. Der Tod hatte gewonnen. Er hatte eine weitere unschuldige Person in sein Reich gezogen. Noch dazu auf die grausamste Art und Weise. Alles war verloren.

Dies war das Ende.

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(Aber nicht von der ganzen Geschichte)

Hiccstrid ~ Schwere Zeiten ✅Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt