37. Wen würdest du wählen?

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Da ich so lange kein Kapitel mehr veröffentlicht habe, kommt jetzt ein extralanges für euch! :)

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Dunkelheit. Pure Dunkelheit. Schwarz. Alles war schwarz. Hilflosigkeit breitete sich in ihr aus. Es gab keine Hilfe. Niemand, der ihr sagen konnte, was los war, was geschehen war. Sie fühlte nichts. Alles war taub. Ihr ganzer Körper. Wie gelähmt. Stille. Es war nichts zu hören. Keine Geräusche, die ihr halfen, sich zu orientieren. Alles war schwarz. Alles war taub. Alles war still.
Und erst dann öffnete sie ihre Augen.

Das grelle Licht baute sich vor ihr auf, blendete sie gnadenlos. Es brauchte ein paar Sekunden, um zu merken, dass es sich nicht einmal um richtiges Licht handelte. Alles war...weiß. Ein helles Weiß, das schnell in die Augen stach. Egal, wo sie hinschaute, alles war weiß. Die ganze Umgebung, der Boden, auf dem sie saß. Einfach alles nur weiß. Sie wusste ja nicht einmal, ob das, worauf sie saß, ein Boden war. Sie wusste auch nicht, was das vor ihr, hinter ihr, rechts von ihr, links von ihr und ober ihr war. Sie erkannte nur weiß. Erst nach ein paar Minuten erkannte sie, dass es ein bisschen neblig war. Das Weiß war anscheinend ein unglaublich dichter Nebel, der die Sicht auf das in der Ferne Liegende nahm.
Dann setzte die junge Frau ihre Arme ein, um sich aufzusetzen. Sie stöhnte. Nicht aus Müdigkeit oder Schmerz. Eher aus Verwirrung.
Verwirrt. Das beschrieb die junge Erwachsene gerade am besten. Verwirrt, als auch erstaunt. Wo zum heiligen Odin war sie? Was hatte sie an diesen merkwürdigen Ort gebracht?
Dann schien es so, als würde Thor höchstpersönlich einen Blitz auf sie werfen. Der imaginäre Blitz durchfuhr sie, ihre Gedanken, ihren Körper und ihre Erinnerungen.
Sie, Astrid Hofferson, erinnerte sich, was passiert war. Sie erinnerte sich an die schlimmen Schmerzen, die sie ertragen musste. Sie erinnerte sich an ihren...Tod.
Sie war gestorben. Astrid Hofferson ist gestorben. Sie hat es nicht geschafft, Kruor aufzuhalten. Sie hat sich nicht bewiesen. Sie hat ihren Ruf nicht verteidigt. Kruor hatte gewonnen. Zusammen mit dem Tod hatte der Schurke gewonnen.
Der nächste Blitz durchfuhr die Blonde. Ihre Freunde und ganz Berk waren da unten. Astrid hatte ihre Freunde zurückgelassen. Fischbein, Rotzbakke, die Zwillinge Raffnuss und Taffnuss. Sturmpfeil und Hicks, ihre allerbeste Freundin und der Wikinger, dem sie ihr Herz und ihre ganze Liebe geschenkt hatte. Sie hatte alle im Stich gelassen. Wie konnte sie nur so schwach sein? Wie konnte sie Kruor unterlegen sein? Astrid war noch nie so enttäuscht von sich gewesen. Sie hatte alles vermasselt.
Astrid Hofferson hat ihr Ziel nicht erreicht. Astrid Hofferson hat sich als Schwächling bewiesen.
Die Wikingerin wurde aus ihren schrecklichen Gedanken gerissen, als sich der Nebel verdunkelte. Zumindest wirkte es auf Astrid zuerst so. Im nächsten Moment merkte sie, dass es sich um eine Gestalt handelte. Als der große Schatten sich auf einmal in zwei Stücke teilte, wusste Astrid, dass es sich um zwei Gestalten handelte. Die Schatten kamen näher. Und je näher sie kamen, desto mehr konnte man ausmachen. Es handelte sich um zwei Menschen, die geradewegs auf Astrid zusteuerten. Sobald sie den Nebel hinter sich hatten, blieben sie stehen. Astrid erkannte sie sofort.
Ihr erster Gedanke: Sie war tatsächlich in Walhalla.
Ihren zweiten Gedanken rief sie laut:
,,Mutter! Vater!"
Sie brauchte nur ein paar Sekunden, um das ganze zu realisieren. Dann setzte sie ihre Beine in Bewegung. Sie stand auf und begann zu rennen. Es waren nur ein paar Meter, aber sie kamen ihr wie Ewigkeiten vor. Schließlich hatte die junge Frau den Abstand zwischen ihr und ihren Eltern geschlossen und sie stürmte geradewegs in ihre Arme. Überglücklich drückten die Drei sich gegenseitig an sich. In Astrid Augenwinkeln bildeten sich Tränen, doch sie bemerkte es ist. Das einzige, was ihr in diesem Moment wichtig war, war, endlich wieder bei ihren Eltern zu sein. ,,Ihr seid wirklich da!" Es kam keine Antwort. Stattdessen drückten Astrids Eltern sie sanft von sich und beendeten somit die Umarmung. Erst dann, als Astrid ihnen richtig ins Gesicht schauen konnte, sah sie, dass die Augen ihrer Eltern auch glasig waren. Die 20-Jährige hatte ihre Eltern noch nie weinen sehen. Zwar taten sie das nicht, aber dass sie kurz davor waren, konnte man auch schon fast als eine Sache der Unmöglichkeit bezeichnen.
Das große Lächeln in ihrem Gesicht verschwand, als Astrids Mutter an den vorigen Satz ihrer Tochter zurückerinnerte, indem sie darauf antwortete: ,,Wir sind wohl eher weg" Als die etwas verwirrte Wikingerin ihre Stimme nicht zu erheben schien, setzte Mrs.Hofferson fort: ,,Wir sind weg. Genauso wie du. Du hast es schon gemerkt. Wir befinden uns hier in Walhalla. Wir leben nicht. Wir sind tot." Die letzten zwei Sätze konnte Astrid nicht richtig verdauen. Auch wenn sie dadurch wieder bei ihren Eltern sein konnte, erschien es ihr wie ein Alptraum. Wir leben nicht. Wir sind tot.
Ihren Eltern entging nicht, dass Astrid dies noch immer nicht realisieren konnte. Auch wenn es nur ein Teil der Wahrheit war, versuchte ihr Vater sie zu besänftigen: ,,Ich weiß, es ist schwer, aber-" Aber ganz plötzlich unterbrach Astrid ihren Vater mitten im Satz: ,,Es tut mir so leid!" Ihre Eltern erschraken, da sie nicht erwartet hatten, dass Astrid auf einmal mit einer bebenden Stimme rief.
Sie blickten ihre Tochter entgeistert an, als diese begann, den Grund für ihren lauten Ruf zu erläutern - Zwar noch immer mit einer zitternden, bebenden Stimme, aber nicht mehr so laut: ,,Es tut mir so leid...Ich habe verloren. Ich habe Kruor versucht, zu besiegen, aber ich habe es nicht geschafft. Ich wurde geschlagen. Ich bin schwach, ich habe versagt und ich habe euch enttäuscht. Ich bin es nicht würdig, eine Hofferson zu sein. Oh Thor...Es tut mir leid!"
Ihre Eltern waren durch diese Worte erst Mal in eine Art Starre versetzt. Das war alles, was Astrid ihren Mienen ablesen konnte. Inzwischen waren ihr ein paar Tränen hinuntergeronnen, da sie so energisch geschrien hatte. Sie wartete eine Reaktion ihrer Eltern ab, aber nichts geschah. Es dauerte, bis Mr.Hofferson eine Antwort gefunden hatte: ,,Weißt du was? Wir müssen dir etwas zeigen." Geschockt blickte Astrid auf. Ihr Vater stieg darauf ein: ,,Oder bessergesagt jemanden." Sie schenkten ihrer Tochter ein mildes Lächeln. Es hatte trotzdem keine sehr besänftigende Wirkung auf Astrid. Diese Wirkung kam erst auf, als Astrid das sah, was ihre Eltern ihr zeigen wollten.
Die beiden Elternteile führten sie den nebeligen Weg, den sie gekommen waren, entlang. Der Nebel erstreckte sich zwar nur über ein paar Meter, aber da er so unglaublich dicht war, hatte Astrid die große Halle am anderen Ende des Weges nicht gesehen. Sie war riesig gebaut und äußerst edel gestaltet. Man konnte nicht sehen, wie groß diese Halle war, da sie an den Seiten und hinten auch von Nebel umgeben war. Vermutlich ging sie ins Unendliche.
Erstaunt folgte Astrid ihren Eltern, die vor ihr geradewegs auf die Halle zusteuerten. Von draußen hörtest du nichts, aber es brauchte nur einen Schritt nach innen und schon überschwemmte dich der Lärm förmlich. Man hörte Reden, Lachen, auch so manches Gepolter, als würde jemand tanzen, und vieles mehr. Wie in der Großen Halle auf Berk, wenn ein Fest stattfand, nur noch um Einiges lauter. Es war auch ungefähr so wie das große Gebäude auf Berk gestaltet, nur edler, noch schöner und heller, um nicht zu sagen, dass alles fast nur weiß war.
Fasziniert schaute Astrid um sich und sah lauter Wikinger, die sich zu amüsieren schienen. Es gab ihr ein bekanntes, beruhigendes Gefühl. Doch die Wikinger, zu denen ihre Eltern sie geführt hatten, ließen Astrid kurz aussetzen. Die junge Frau konnte es fast nicht glauben:
Unglaublich viele ihrer Familienmitglieder standen ihr gegenüber. Ihre Vorfahren. Tanten und Onkel, Großeltern, Urgroßeltern, Ur-Urgroßeltern, Ur-Ur-Urgroßeltern...Und so weiter. Im Prinzip ihre ganze Familie, die gestorben war, sowohl bevor Astrid geboren wurde, als auch die, die nach Astrids Geburt gestorben waren. Das heißt, vor Astrid standen Leute, die sie zum Teil kannte, aber auch nicht. Trotzdem spürte sie im Moment eine gewisse Verbundenheit, immerhin waren sie verwandt.
Es dauerte eine Weile, bis Astrid alle kennengelernt oder diejenigen, die sie bereits kannte, begrüßte. Insgesamt hatte Astrid vermutlich schon so eine halbe Stunde hier in Walhalla verbracht. Es war ein tolles, vertrautes Gefühl, mit all ihren Verwandten gemeinsam zu tratschen und zu lachen. Trotzdem fühlte Astrid noch immer diese Leere in sich. Sie vermisste etwas.
Irgendwann schlich die Blonde sich kurz davon und ging aus der Halle. Nicht, um frische Luft zu schnappen, immerhin atmete man diese überall ein, sondern einfach, weil es draußen leise und friedlich war. Als sie draußen vor der Halle stand und in den dichten Nebel vor sich starrte, bemerkte sie ihre Eltern nicht, da man ja das, was in der Halle stattfand, nicht hören konnte. Erst, als sie aus der Halle herausgekommen waren, spürte Astrid ihre Anwesenheit. Die Wikingerin starrte dennoch weiterhin ins Leere. Als ihre Eltern sich stumm neben sie stellten, fragte sie, um sich keine Fragen von ihren Eltern anhören zu müssen: ,,Wisst ihr...Ich habe die ganze Zeit versucht, Kruor zu besiegen, weil er euch ermordet hat. Aber ich weiß noch immer nicht, warum." Sie machte eine kurze Pause und wandte sich dann ihren Eltern zu. ,,Erzählt mir, was in der Vergangenheit mit Kruor passiert ist."
Ihre Eltern folgten ihrer Anforderung sofort und ihre Mutter machte den Anfang:
,,Ein paar Jahre vor deiner Geburt gab es einen Krieg zwischen Berk und den sogenannten Atrozen. Kruor war einer von diesen. Der Krieg fand irgendwo am Ozean ziemlich weit entfernt von Berk und in der Mitte von Berk und der Insel der Atrozen statt. Du fragst dich bestimmt, was der Konflikt und der Auslöser für diesen Krieg war. Es war leider ein unbegründeter, ziemlich unnotwendiger Grund, könnte man sagen. Es ging nur um Macht. Die Atrozen waren generell ein sehr machtgieriges und grausames Volk, aber wären wir nicht genauso stolz und wild auf Macht, hätten wir diesem Krieg nicht eingewilligt. Wir Wikinger wollen wirklich nur unseren Namen und Stolz verteidigen, aber wir berücksichtigen die dafür notwendigen Verluste nicht. Das tut man erst, wenn man so endet, wie dein Vater und ich." Mit einem leichten, traurig wirkenden Lächeln erwiderte Mrs.Hofferson den Blick ihrer Tochter. Astrid ließ sich die Worte ihrer Mutter nochmal durch den Kopf gehen und gestand, dass sie größtenteils Recht hatte. Ihr Vater fuhr mit der Erzählung der Vergangenheit fort: ,,Kruor hat damals nicht mitgekämpft, dafür aber seine Eltern. Du kannst dir denken, warum er so auf Rache aus war. Wir haben seine Eltern im Krieg getötet. Anscheinend hat es ihn so getroffen, weil sie seine einzige Familie waren. Aber vor allem auch deshalb, weil er nicht da war und den Tod seiner Eltern nicht verhindern konnte." Astrids Mutter übernahm wieder das Reden: ,,Etwas mehr als 20 Jahre später wollte Kruor sich dann endlich rächen. Dein Vater und ich sind zu der Vermutung gekommen, dass Kruor zuerst uns töten wollte, damit wir dabei zusehen müssen, wie du langsam und gequält durch das Gift stirbst. Er wollte, dass wir wissen, wie es ist, dem Tod entgegenzublicken, aber nichts dagegen tun zu können." Nachdem Astrid merkte, dass dies das Ende der Geschichte war, senkte sie ihren Blick zu Boden und murmelte: ,,Und das hat er auch geschafft."
Es herrschte kurze Stille. Astrid wandte sich von ihren Eltern ab und blickte wieder in das helle Weiß vor ihr. Sie spürte den Blick ihrer Eltern auf sich, wagte es aber nicht, sich zu rühren, noch etwas zu sagen. Schließlich vollzog dies ihr Vater: ,,Astrid, könntest du dich entscheiden, bei wem du bleiben würdest - Deine ganze Familie hier in Walhalla oder deine Freunde auf Berk - Wen würdest du nehmen?" Durch diese Frage überrumpelt, kam aus Astrids Mund nur ein verwundertes ,,W-Was?" ,,Du hast mich schon verstanden", lautete die Antwort. ,,Muss ich das wirklich beantworten? Ich weiß es doch auch nicht." Auf Astrids Aussage erhob nun ihre Mutter ihre Stimme: ,,Ich bin mir sicher, dass du es weißt. Dies ist eine Frage, die nicht mit dem Kopf, sondern mit dem Herzen beantwortet werden muss. Es ist keine Quizfrage, die man meistens nicht beantworten kann." ,,Mutter...", flüsterte Astrid, unfähig, eine sofortige Antwort zu geben.
All ihre Freunde auf Berk oder ihre ganze Familie in Walhalla? Leben oder Tod? Ein Leben voll von Problemen und Schmerzen oder ein friedlicher, problemloser Tod?
,,Warum wollt ihr das überhaupt wissen? Ich bin doch sowieso schon tot. Ich kann mich nicht entscheiden, wohin ich will." Ihre Mutter erkundigte sich: ,,Also wärst du lieber auf Berk?" ,,Nein. Ja. Vielleicht! Ich weiß nicht...", verkündete Astrid energisch. Ihr Vater gab sich damit nicht zufrieden: ,,Komm schon, Tochter. Wir Hoffersons wissen immer, welchen Weg wir gehen wollen. Du bist eine Hofferson, also kannst du diese Frage leicht beantworten. Nimm dir einen Moment und denk ordentlich nach!" Dies verleitete Astrid nun, in ihrem Herzen nach der Antwort zu suchen. Sie dachte daran, wie viel Spaß sie vorher mit ihrer ganzen Familie hatte. Es war angenehm und schön, mit seinem ganzen Verwandten zu sprechen. Ihre Eltern, zwei der wichtigsten Personen in ihrem Leben, mittendrin.Aber dann waren da ihre Freunde auf Berk.
Astrid dachte an die Zwillinge, wie sie Häuser anzündeten oder irgendwie anders Chaos verbreiteten, sich auf eine gewisse Art stritten, immer fröhlich den Tag starteten, von nichts eine Ahnung hatten und der Wikingerin aber doch immer das Gefühl gaben, daheim zu sein. Es klang zwar eigenartig, aber es stimmte.
Genauso wie Rotzbakke, der immer versuchte, Raffnuss anzubaggern, sich über alles beschwerte, jeden Tag von seinem Drachen angezündet wurde und dem niemals etwas richtig gelang. Der Schwarzhaarige gab Astrid auch immer das Gefühl, zu Hause zu sein.
Als nächstes dachte Astrid an Fischbein, der nicht nur in Raffnuss, sondern auch in seine Bücher und Drachen verliebt war. Auch er gab der 20-Jährigen das Gefühl, daheim zu sein. Sie sah ihn vor sich, wie er hilflos versuchte, die Zwillinge und Rotzbakke unter Kontrolle zu bringen, seinen Drachen Fleischklops kraulte und mit Hicks über irgendetwas philosophierte.
Hicks...Der Wikinger, der ihr die Augen geöffnet hat. Er hat ihr nicht nur gezeigt, wie Drachen wirklich sind. Er hat ganz Berk nicht nur unglaublich viel gutes getan. Er hat nicht nur bewiesen, dass er vermutlich der mutigste Wikinger überhaupt ist. Er hat Astrid nicht nur die Augen geöffnet, sondern auch ihr Herz. Hicks war der Junge, den Astrid liebte. Die junge Frau dachte daran, wie viele schöne Moment sie schon mit ihm verbracht hatte, wie es sich anfühlte, bei ihm zu sein, wie wundervoll es war, von ihm geliebt zu werden und wie viel sie schon gemeinsam durchgemacht haben. Der Drachenreiter gab ihr ebenfalls das Gefühl, daheim zu sein.
Als letztes kam Astrid das Bild von ihrem Drachen auf. Ihre allerbeste Freundin: Sturmpfeil. Der tödliche Nadder, mit dem Astrid über die Jahre eine unglaubliche Freundschaft aufgebaut hatte. Die Blondine dachte an das Gefühl, auf Sturmpfeils Rücken durch die Lüfte zu fliegen, gemeinsam mit ihr die einzigartige Freiheit zu genießen, neue Gebiete zu erkunden, sich zusammen mit ihr durch harte Zeiten zu kämpfen und viele tolle, atemberaubende Momente zu erleben. Sturmpfeil gab Astrid ebenfalls das starke Gefühl, daheim zu sein.
Jetzt wusste Astrid die Antwort. Entschlossen drehte sich sich zu ihren Eltern und begann zu sprechen: ,,Ich weiß jetzt, wen ich wähle." Ihre Eltern schenkten ihr ihre ganze Aufmerksamkeit. Astrid schluckte kurz und erklärte dann: ,,Es ist wirklich wundervoll, bei euch zu sein. Es gibt mir ein gutes Gefühl, meine ganze Familie bei mir zu haben. Ich wähle euch." Auf Astrids Entschluss schauten ihre Eltern unerklärlicherweise ziemlich geschockt drein. Kurz blieb Astrid still, dann fuhr sie auf einmal fort: ,,Das würde ich zumindest sagen, gäbe es nicht Berk. Ich vermisse meine Freunde jetzt schon. Ich stelle mir vor, wie sie trauern müssen, da ich jetzt tot bin. Auf der einen Seite möchte ich sie sehen. Auf der anderen-" Astrid brach abrupt ab, als sich vor ihr in dem weißen, äußerst dicken Nebel etwas tat. Sie beobachtete, wie das Weiß immer dunkler wurde und sich zu einem Bild verformte. Es dauerte nicht lange bis Astrid ein schreckliches Bild vor sich sah. Sie sah sich selbst leichenblass auf einer hölzernen Trage liegen, ihre Axt lag auf ihr, ihre Hände auf dem Griff der Axt. Sie sah ihr totes Ich!
Das Bild wurde auf einmal immer größer, die Astrid im Bild wurde immer kleiner. Bald schon sah man auch die Personen rundherum um die Trage. Astrid erkannte, dass die Trage von Pütz und Mulch getragen wurde. Rechts von ihr gingen die Zwillinge, die sich gegenseitig versuchten, zu trösten, aber nicht aufhören konnten, zu weinen. Auf der anderen Seite der Trage waren Rotzbakke und Fischbein. Während Fischbein einfach drauf los heulte, versuchte Rotzbakke stark zu wirken und nicht zu weinen, aber es gelang ihm nicht.
Das Bild zoomte noch weiter hinaus und dann schwebte die Sicht über die Menge nach vorne zu den Leuten, die an vorderster Stelle gingen. Einer davon war Hicks. Astrid erkannte ein mehr als nur trauriges Gesicht, dazu noch Tränen und innerlich eine gebrochene Seele und ein gebrochenes Herz. Astrid wollte sich nicht vorstellen, wie viel Schmerz sowohl Hicks als auch ihre Freunde gerade trugen. Als dann noch die Sicht zu Sturmpfeil wechselte und ihre Reiterin ihren schmerzerfüllten, niedergeschlagenen Ausdruck sah, erreichte Astrid ihren Höhepunkt der Gefühle.
Sie wollte dort runter. Sie wollte zu ihren Freunden gehen, ihnen beweisen, dass sie lebte. Sie wollte sie trösten, sie in die Arme nehmen. Aber nicht nur das. Astrid wollte sich lebendig fühlen. Sie wollte lebend dort unten ihren Alltag auf Berk verbringen, neue Abenteuer erleben.
Die Blondine drehte sich zu ihren Eltern. Das Bild, das sich jetzt hinter ihr befand, verschwand in der nächsten Sekunde. Mit viel Entschlossenheit sprach Astrid: ,,Ich würde gerne bei euch sein, das wisst ihr. Aber die Menschen auf Berk, meine Freunde, mein...Leben - Das alles ist da unten. Und ich vermisse es alles. Am liebsten möchte ich mein restliches Leben auf Berk verbringen, alt werden, viele neue Erfahrungen sammeln, Abenteuer erleben...Das kann ich hier oben nicht. Aber auch wenn ich es könnte...Meine Familie würde mir fehlen."
Auf den letzten Satz wichen Astrids Eltern erschrocken einen Schritt zurück. Sie konnten ahnen, was dies bedeutete, aber trotzdem versetzte es sie in Verwunderung. Astrid setzte nach der kurzen Pause fort: ,,Ihr habt richtig gehört. Ich habe so viel Zeit, eigentlich sogar mein halbes Leben, mit meinen Freunden verbracht und ich möchte es weiterhin tun. Wir drei sind zwar verwandt, aber ich habe realisiert, dass meine Freunde schon zu meiner wahren Familie geworden sind. Im Moment möchte ich sie so sehen, wie sie immer sind. Ich möchte Hicks sehen, wie er gemeinsam mit Ohnezahn ihre Geschwindigkeit, ihre Wendigkeit und ihre Sicht über die Welt verbessern, ich möchte Fischbein sehen, wie er Fleischklops krault, während er wie verrückt in seinen Büchern liest, ich möchte Rotzbakke sehen, wie er bei dem Versuch, auf wichtig zu tun, in Flammen aufgeht, ja, ich möchte sogar die Zwillinge sehen, wie sie wieder ihre Streiche spielen und Chaos verbreiten. Ich möchte das alles nicht verpassen. Statt hier oben zu sein, möchte ich mit Sturmpfeil durch die Lüfte fliegen und neue Gebiete erkunden. Ich möchte einfach...leben." Wieder folgte eine Pause.
Astrid blickte ihren Eltern kurz in die Augen und merkte, dass sie ziemlich beruhigt aussahen. Dann beendete Astrid ihre Rede mit dem folgenden: ,,Ihr habt mich gefragt, wen ich wählen würde. Meine Antwort lautet: Ich wähle meine Freunde und Berk."
Wie vorher herrschte Stille. Astrid atmete nach ihrer Erklärung aus und blickte ihren Eltern ins Gesicht. Diesmal realisierte Astrid erst so richtig, dass sie wirklich ruhig und gelassen waren. Sie sahen sogar schon zufrieden aus.
Die junge Frau wagte es nicht, etwas zu äußern. Ihr Mund blieb geschlossen, genauso wie die ihrer Eltern. Die Stille hielt an, bis ihre Eltern sich gegenseitig vielsagende Blicke schenkten und ihre Aufmerksamkeit dann wieder ihrer Tochter zuwandten.
Bevor Astrid reagieren konnte, sagte ihr Vater: ,,Ich bin so stolz auf dich." ,,Das sind wir beide", ergänzte ihre Mutter. Ihre Tochter schenkte ihnen ein entgeistertes Gesicht: ,,Ich habe gerade gesagt, dass ich jemand anderen euch vorziehe und ihr seid stolz auf mich?!" Während ihr Vater schmunzelte, musste ihre Mutter lachen. ,,Das stimmt gewissermaßen." Ihr Vater redete weiter: ,,Du hast bewiesen, dass du deinen eigenen Willen hast. Du weißt, dass du die einzige bist, die über dein Leben entscheidet. Und du weißt auch, wie du dich entscheidest. Du bist eine Hofferson. Du gehst deinen eigenen Weg."
Anders als ihre Eltern es erhofft hatten, machte diese Aussage Astrid nicht glücklich, sondern nur traurig. ,,Das stimmt nicht. Ich bin es nicht würdig, eine Hofferson zu sein. Ich habe es nicht geschafft, meinen größten Feind zu besiegen. Zum großen Odin, ich bin hier in Walhalla. Ich bin tot!"
Ihre Eltern waren wieder zurückgewichen, weil sie nicht gewusst hatten, dass ihre Tochter dies tatsächlich dachte.
Astrids Mutter nahm wieder den Faden auf und begann mit einer einfachen Frage: ,,Weißt du noch, als wir vorher gesagt haben, dass wir nicht leben, sondern tot sind?" Astrid nickte, worauf ihre Mutter fortfuhr: ,,Weißt du...Eigentlich haben wir dir etwas verheimlicht. Dies gilt nämlich nur für deinen Vater und mich." Abrupt tauchte Astrid aus ihrem Meer von Gedanken und Gefühlen auf und schaute ihre Eltern sprachlos an. Mrs.Hofferson erklärte weiter: ,,Du bist nicht richtig tot, Astrid. Du bist niemals gestorben." Erst jetzt erlangte Astrid ihre verloren gegangene Stimme wieder. Das erste, was ihr entwich, war ein entsetztes ,,Was?!" Ihr Vater versuchte mehr Licht in die Sache zu bringen und erzählte: ,,Wir haben gehofft, als wir dich die Frage von vorher gestellt haben, dass du Berk wählst. Immerhin würdest du wieder zu ihnen zurückkehren." Stille. Astrid stammelte ein leises ,,W-Was? Was redet ihr da?" Der Wikinger verkündete: ,,Die Beere, das Gegengift für die Seuche der Götter, wurde rechtzeitig gebracht. Du bist nicht gestorben. Du hast die Krankheit besiegt. Du hast den Tod besiegt." Diese Worte versetzten Astrid einen Schwarm von Gedanken und Gefühlen. ,,Aber...wieso sollte ich jetzt in Walhalla sein, wenn ich nicht tot bin?" Ihre Mutter antwortete: ,,Okay, vielleicht bist du doch tot..." ,,Was!?" ,,Lass mich ausreden, Tochter. Du bist nicht richtig tot, also nicht für immer. Wir Hoffersons sind zwar für unsere physischen Stärken, also für unsere guten Kampfkünste, bekannt, aber wir sind nicht ganz dumm. Anscheinend waren wir aber die einzigen, die die Seuche der Götter kannten. Das merkwürdige an dieser Krankheit ist, dass das Gegengift, also diese Beere, eine Stunde braucht, um zu wirken. Da du so kurz vor deinem Tod diese Beere gegessen hast, solltest du nun eine Stunde tot sein, dann wieder zu Leben erwachen."
Dies verpasste Astrid nun den letzten Schub an Gefühlen und Gedanken. Die Wikingerin brauchte ein paar Sekunden, um das ganze zu realisieren.
Ihr Vater sprach: ,,Du hast den Tod besiegt, Astrid. Das bedeutet, dass du gemeinsam mit deinen Freunden alles schaffen kannst. Wir sind so stolz auf dich. Du bist es würdig, eine Hofferson zu sein." ,,Das steht fest", bestätigte ihre Mutter. Astrid, die von diesen Worten gerührt war, murmelte: ,,Ich...komme wieder nach Hause?" Ihre Eltern nickten.
Astrid konnte nicht anders, als zu lächeln. Sie stellte sich vor, wieder unten bei ihren Freunden zu sein, Ihr Leben weiterführen zu können. Sie würde Kruor besiegen und danach würde alles wieder seinen normalen Klang annehmen. Astrid könnte wieder Zeit auf Berk verbringen, mit ihren Freunden Abenteuer erleben, gemeinsam mit Sturmpfeil die Freiheit genießen und so vieles mehr. Sie würde alle wieder sehen. Sturmpfeil, Hicks, Rotzbakke, Fischbein, die Zwillinge und alle anderen Bewohner auf Berk. Dieser Gedanke erschien ihr in diesem Moment einfach nur perfekt.
Im nächsten Augenblick fiel der jungen Wikingerin etwas ein, sie wandte sich wieder an ihre Eltern und äußerte: ,,Aber es ist schon ungefähr eine Stunde vergangen. Heißt das, ich werde euch in ein paar Minuten nicht mehr sehen?" Ihre Eltern erkannten Traurigkeit in ihrer Stimme. ,,Ja, es stimmt. In wenigen Minuten haben wir uns das letzte Mal gesehen", sprach ihre Mutter und bestätigte somit Astrids Verdacht. Sie fuhr fort: ,,Aber das ist nicht wichtig. Das einzig wichtige im Leben ist, egal, was passiert, weiterzumachen. Es gibt immer einen Weg, egal ob er kurz oder lang ist. Und du, meine Tochter, hast es geschafft, auf dem weiten Weg aus dem Totenreich zu entkommen. Du wirst jetzt wieder ins Leben kommen und der Welt zeigen, dass du als eine Hofferson geboren wurdest. Und als eine Hofferson findet man immer einen Weg." Die Blonde hatte ihrer Tochter eine Hand auf die Schulter gelegt. Die gerührte Astrid hörte als nächstes ihrem Vater zu, der sagte: ,,Eine Hofferson ist stark, sowohl körperlich, als auch geistig. Sie sieht in jeder Situation einen Ausweg, verteidigt ihre Ehre um jeden Preis und überwindet ihre Schwächen. Aber du, Astrid, bist etwas ganz besonderes. Du hast uns eines Besseren belehrt. Du hast gegen den Tod gesiegt, der einzige Feind, den niemand zu bezwingen weiß. Du bist nicht nur eine wahre Hofferson, sondern auch die stärkste von allen." Da Astrids Vater noch nie so etwas gesagt hatte, konnte sie ein Lächeln nicht verhindern. Die Glücklichkeit, die sie empfand, schien keine Grenzen zu haben.
Ihre Mutter nahm auf einmal ihre goldene Halskette ab, nahm mit einer Hand Astrids und legte die Kette in diese. ,,Wir könnten nicht stolzer sein, Astrid. Also denk nicht nochmal daran, so an dir zu zweifeln. Du hast keinen Grund dazu."
Es folgte kurze Ruhe und die Familie schaute sich einfach nur fröhlich in die Augen. Erst nach ein paar Sekunden, nachdem es geschehen war, bemerkte Astrid, dass sich etwas komisch anfühlte. Da dieses unerklärliche Gefühl an ihren Beinen begonnen zu haben schien, blickte sie nach unten. Sie erschrak.
Ihre Füße hatten sich vollständig aufgelöst, ihre Beine folgten. Immer mehr von ihr löste sich zu einer Wolke von Nebel auf. Als ihre Knie bereits nicht mehr zu sehen waren, schaute Astrid ihre Eltern etwas panisch an. ,,Ist es soweit?", fragte sie mit einer ganz leicht zittrigen Stimme. Ihre Eltern nickten. Schnell legte Astrid sich die Kette ihrer Mutter um ihren Hals und begann zu reden: ,,Mutter, Vater, ich verspreche euch, ich werde euch niemals enttäuschen. Ich werde meine und eure Ehre verteidigen. Ich schwöre, dass ich mich an Kruor rächen werde." Nebel erschien von ihrem schwindenden Oberschenkel. Gehetzt setzte die Kriegerin fort: ,,U-Und ich werde immer, wenn ich in einer schwierigen Situation bin, an eure Worte denken. Dann werde ich auf mein Herz, meinen Kriegerinstinkt und meinen Geist hören und einen Weg finden, alles wieder in Ordnung zu bringen." Ihr Bauch fing an, sich aufzulösen. Er wurde zuerst durchsichtig, aber so, sodass man noch ganz wenig sah. Dann verschlang das Nichts ihren Bauch und Nebel trat wieder zum Vorschein.
Astrid wusste, dass sie nur noch wenige Sekunden hatte. Nach diesen Sekunden würde sie ihre Eltern nie wieder sehen. Und Astrid wusste, was sie als letztes zu sagen hatte.
,,Mutter, Vater, ich liebe euch."
Dieser Satz bedeutete mehr, als alles, was bis jetzt gesagt worden war. Hoffersons zeigten zwar Emotionen, aber sie erwähnten diese nie. Diese bedeutsamen Wörter zu hören, brachte Astrids Eltern daher ins Stocken. Sie sahen kurz zu, wie Astrids Oberkörper sich auflöste, dann ergriffen sie ihre letzte Chance sofort.
,,Wir lieben dich auch"
Der letzte Schritt von Astrids wundersamer Auflösung verlief sehr schnell. In einer Sekunde verschwand sie ganz und nichts von ihr war mehr zu sehen. Der letzte Blickkontakt zu ihren Eltern war vollbracht. Dies war das allerletzte Mal, dass sie ihre Eltern gesehen hatte.

Es dauerte mehrere Sekunden, vielleicht auch Minuten - Astrid wusste es nicht genau - bis sie wieder fühlen konnte. Sie fühlte nur eine harte Fläche, auf der sie lag. Sie sah nur schwarz und roch etwas, auf das sie keine Schlussfolgerung ziehen konnte, was es war.
Und es brauchte nur einen kurzen Ruck, also der Funke der Hoffnung und des Enthusiasmus, ihre Freunde wiederzusehen, um aus dieser Schwärze aufzutauchen. Astrid öffnete ihre Augen.
Sie sah den Himmel, den dunklen, klaren Himmel. Viele Sterne erleuchteten das schwarze Bild. Der Anblick war beruhigend und vor allem wunderschön. Astrid sprang nicht vor Freunde auf oder tat etwa derartiges. Sie lag einfach da und freute sich unglaublich, dass sie wieder lebte. Astrid Hofferson lebte. So einen Satz würde man später in einer Geschichte über dieses Geschehen nennen. Astrid könnte ihren Freunden erzählen, was passiert war. Wie wohl ihre Gesichter aussehen würden, sobald sie Astrid so sahen: Lebendig vor ihnen stehend. Astrid musste lächeln. Ihr Lächeln wurde etwas größer, als sie spürte, dass ihre Hände etwas umgriffen hatten. Es war ein vertrautes Gefühl, den Griff ihrer Axt in der Hand zu haben. Zu leben war ein vertrautes Gefühl.  Sie würde nun wieder ihren Weg gehen. Den Weg des Lebens. Und dieser Weg war ihr Schicksal und somit lagen auf diesem Weg alle Sachen, die sie noch erleben würde - Gemeinsam mit ihren Freunden.
Von diesem friedlichen Gedanken abgelenkt, realisierte Astrid erst jetzt, dass etwas komisch war. Sie fühlte ihren Körper, sie wusste, dass sie lebte, aber etwas war nicht gewöhnlich. Mit dem beschäftigt, merkte Astrid dann auch, was genau los war.
Sie schwitzte. Und wie sie das tat. Es war heiß, extremst heiß. Stöhnend richtete Astrid sich auf. Das Bild vor ihr ließ sie in Schrecken und Panik verfallen. Angespannt verfestigte sich ihr Griff um ihre Axt. Beinahe wäre ihr ein Aufschrei entkommen, aber es entstand stattdessen ein erschrockenes Keuchen.
Das Bild, das sie sah, spielte sich um sie herum ab. Kein Wunder, das ihr so heiß war. Wie hatte sie das nur nicht bemerken können? Vermutlich haben die Sicht auf die Sterne und das Gefühl, zu leben, sie so unglaublich abgelenkt.
Und jetzt befand sich Astrid mitten im Ozean. Aber dies war nicht das entscheidende.
Das Schreckliche war, dass das Boot, auf dem sie lag, in Flammen stand.

Hiccstrid ~ Schwere Zeiten ✅Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt