46. Wut wie ein Wasserfall

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Astrid ließ das letzte Mal das Gefühl des Fliegens und der Freiheit durch sie fließen. Dann setzte Sturmpfeil schon zur Landung an und kam im Dorf auf Berk zum Stehen. Astrid tätschelte ihren Drachen am Hals. ,,Das war ein schöner Flug.“ Sturmpfeil krächzte zustimmend.
Astrid stieg ab und ging ein paar Schritte, Sturmpfeil folgte ihr. Sie steuerten auf die Hütte mit den Vorräten an, da Astrid ihrem Drachen Futter geben wollte. Da flitzte ein schwarzes Etwas vor ihnen von einem Haus hinter das andere. Astrid blieb verwirrt stehen und sah zu, wie das Etwas von demselben Haus wieder in die andere Richtung zu einem anderen rannte. ,,Ohnezahn?“ Wieder rannte der Nachtschatten von einer Hütte zur anderen. ,,Ohnezahn!“, rief Astrid nun. Der angesprochene Drache blieb stehen und drehte sich mit einem besorgten Blick zu ihr. Die Blondine legte ihre Hand auf seinen Schädel und erkundigte sich: ,,Was ist denn los? Wieso bist du so aufgewühlt?“ Ohnezahn begann auf einmal in der Gegend rumzuspringen, umkreiste Astrid und versuche irgendwie, ihr das Ganze zu erklären. Die Wikingerin verstand gar nichts. ,,Warte, Ohnezahn. Mach es langsamer und...deutlicher.“ Ohnezahn setzte sich genervt hin und sah Astrid vor sich an. Dann hob er seine Schwanzflosse. ,,Du?“, versuchte Astrid es zu verstehen. ,,Deine Schwanzflosse?“ Frustriert zeigte Ohnezahn auf Astrid, dann auf ihr Bein und dann deutete er mit dem Kopf wieder auf die Schwanzflosse. Astrid überlegte kurz und verstand dann. ,,Meinst du Hicks?“ Ohnezahn nickte aufgeregt. Dann führte er die nächste Geste durch und hüllte sich in seine Flügel, sodass man sein Gesicht nicht mehr erkennen konnte. ,,Hicks...versteckt sich in Flügeln?“ Astrid war ratlos. Ohnezahn versuchte es weiterhin. ,,Hicks...mag Drachenflügel, Hicks mag die Farbe Schwarz, Hicks hat Probleme mit dem Sozialleben und versucht, sich in schwarzen Flügeln zu verstecken...?“ Astrid kassierte einen Schlag von Ohnezahns Schwanzflosse. Dann ging er hinter einer der Hütten. ,,Sagte ich doch. Er spielt Verstecken.“ Ohnezahn grummelte.
Auf einmal ertönte hinter Astrid eine Stimme. Die Blonde erkannte, dass sie die Angesprochene war. Der Dorfbewohner neben ihr fragte: ,,Astrid, hast du Hicks gesehen?“ ,,Ähm...Nein. Nein, habe ich nicht. Wieso sollte ich?“ Astrid war verwirrt. Der Bewohner antwortete: ,,Ach, nichts. Ich habe ihn nur jetzt schon länger nicht mehr gesehen. Als wäre er verschwunden.“ Mit diesen Worten ging der Wikinger davon. Astrid sah ihm überlegend hinterher, dann wandte sie sich wieder an Ohnezahn. Er saß vor ihr und tat wieder seine Flügel über sein Gesicht. Dann breitete sich Klarheit in Astrid aus.
,,Ist...Hicks verschwunden?“ Ohnezahn sprang aufgeregt auf. ,,Was? Wieso sollte er verschwunden sein?“ Ohnezahn hörte nicht auf, wild umher zu tollen. ,,Du hast wohl keine Ahnung.“ Astrid schaute zu Boden, dann wieder zu Ohnezahn. ,,Er kann nicht einfach weg sein. Na los, gehen wir ihn suchen.“ Ohnezahn grummelte zustimmend. ,,Wo hast du denn schon geschaut? Wo ist er vorher gewesen?“ Ohnezahn deutete auf den Wald. ,,Da war er vorher?“ Ohnezahn nickte. ,,Und du hast ihn dort nicht gefunden?“ Wieder nickte Ohnezahn. ,,Na, schön. Vielleicht ist er wo anders hingegangen und du hast ihn nicht gesehen. Hast du schon in eurer Hütte geschaut?“ Ohnezahn grummelte: Ja. ,,In der Schmiede?“ Dieselbe Antwort wie vorher. ,,In der Großen Halle?“ Diesmal gab Ohnezahn ihr einen Blick, der bedeutete, dass der Drache dort noch nicht geschaut hatte. ,,Hauptsache du läufst im ganzen Dorf umher.“, lachte Astrid und tätschelte Ohnezahn im Vorbeigehen.
So gingen Ohnezahn, Sturmpfeil und Astrid zur Großen Halle, mit der Hoffnung, Hicks dort aufzufinden. Doch ihre Hoffnung erstarb, als sie eine Halle betraten, in der sich kein gewisser Haddock befand. Nach dem sie sich umgeschaut hatten, verließen sie die Halle und überlegten sich den nächsten Ort, wo Hicks sein könnte. Nach kurzen Überlegungen beschlossen sie, zur Arena zu gehen.
Aber auch bei dem kreisförmigen, aus Stein gebauten Gebäude fanden sie keinen Hicks. Astrid stand vor dem Eingang und merkte Ohnezahn an, dass er immer besorgter wurde. Sie versuchte, ihn zu besänftigen: ,,Ohnezahn, beruhige dich. Hicks wird sicher irgendwo sein. Mal sehen...Wo haben wir noch nicht gesucht?“ Verzweifelt suchte Astrid nach einer Antwort, um Ohnezahn nicht noch mehr Sorgen zu bereiten. Sie selbst war auch etwas besorgt, aber wohin könnte Hicks schon ohne Ohnezahn? ,,Er könnte...Ja! Er könnte bei den Zwillingen, Rotzbakke oder Fischbein sein. Bei Fischbein, um irgend etwas zu erforschen und bei den anderen, weil sie vielleicht etwas angestellt haben und er sie deshalb anschreien will.“ Astrid war erleichtert, als sie sah, dass ihre Versuche, Ohnezahn zu beruhigen, funktionierten. Der Nachtschatten sammelte sich und ging in Richtung Dorf.
Sie fragten bei jedem der Drachenreiter nach, ob Hicks da war, aber sie bekamen nie die Antwort, die sie hören wollten. Ratlos wandten die Drei sich von den Hütten ab und spazierten in eine unbestimmte Richtung. Astrid seufzte. Sie hatte keinen Plan, wo Hicks sein könnte. Warum sollte er einfach so verschwinden? Es machte keinen Sinn.
Astrid blieb neben der Schmiede stehen, schloss ihre Augen und ging in sich. Sie bemühte sich noch einmal, herauszufinden, was los sein könnte.
Auf einmal ertönte direkt neben ihr eine Stimme. Grobian stellte die Frage: ,,Astrid, hast du Hicks gesehen?“ Die Angesprochene öffnete genervt ihre Augen und es schien, dass ihre Nerven am Ende waren. ,,Wieso sollte ich wissen, wo er ist? Wir suchen ihn jetzt sicher schon eine halbe Stunde und haben ihn noch immer nicht gefunden! Ich habe keine Ahnung, wo er ist und warum er einfach so verschwunden ist, okay?!“ Grobian, nervös von Astrids Reaktion, murmelte: ,,Naja, das letzte Mal, als er in der Schmiede war, sagte er, er müsste Holz sammeln gehen.“ Astrid atmete aus und beruhigte sich. Sie drehte sich zu Ohnezahn. Mit einer ruhigeren Stimme sagte sie: ,,Dann ist er wohl in den Wald gegangen. Dort hast du ihn allerdings nicht gefunden.“ Sie schloss wieder ihre Augen. ,,Wo könnte er nur sein...?“ Es schien einfach keine Antwort auf diese Frage zu geben. Es könnte etwas ganz harmloses sein. Zum Beispiel hat Hicks sich im Wald verlaufen oder etwas in der Art. Aber es könnte auch sehr viel schlimmer sein. Vielleicht war er sogar entführt worden? Aber wenn dies stimmen würde, von wem? Und wieso fiel Astrid einfach nichts darauf ein?! Vermutlich war es etwas ganz offensichtliches, aber sie kam einfach nicht darauf.
Die Wikingerin versuchte ihre Sorgen zu zügeln und wandte sich wieder Ohnezahn und Sturmpfeil zu. Sie wirkten so, als wären sie vom Tag erschöpft. ,,Es ist spät. Wir sollten schlafen gehen. Ich weiß, Hicks ist nicht da, aber ihn jetzt zu suchen, ist sinnlos. Wenn er nicht in der Nacht kommt, dann werden wir ihn morgen natürlich sofort suchen gehen.“
Widerwillig begaben sie sich nach Hause. Sturmpfeil kehrte in ihren Stall zurück, Ohnezahn und Astrid begaben sich in das Haus der Haddocks. Ohnezahn legte sich schlafen, unglaublich viele Gedanken und Sorgen machten ihn fertig. Astrid nahm ihre Axt - Der Grund, weswegen sie gekommen war. Sie befestigte sie hinter ihrem Rücken und versteckte dann einen Dolch sicher in ihrem Schuh.
Eigentlich wollte Astrid gar nicht einfach so schlafen gehen. Wie könnte sie auch, wenn Hicks verschwunden war? Ihr Plan war es, in den Wald zu gehen und nochmal zu suchen. Vielleicht hatte Ohnezahn ja etwas übersehen.
Astrid schaute ihrem Ich im Spiegel entgegen. Es war ein ihr antrainierter Instinkt, die Waffen in so einem Fall mitzunehmen. Mit ihnen fühlte sie sich einfach sicherer und stärker. Außerdem war da dieses komische Gefühl. Innerlich wusste Astrid, dass sie ihre Waffen noch brauchen würde. Und wenn es nur dafür war, um Äste aus dem Weg zu schneiden.
Die 20-Jährige setzte sich zu Ohnezahn vor seine Steinplatte auf den Boden. Er war wirklich unglaublich besorgt und er hasste sich dafür, dass er müde war und Hicks nicht suchen ging. Die Blondine legte ihre Hand auf seinen Kopf. Ohnezahn hörte Astrid mit geschlossenen Augen zu, als sie redete: ,,Ich weiß, dass es schlimm ist, hier einfach so zu liegen. Aber ich verspreche dir, dass wir Hicks finden werden. Und er wird heil und munter sein. Für all das sorge ich höchstpersönlich.“ Sie tätschelte Ohnezahn und stand auf. ,,Ich werde mir noch schnell etwas zu essen holen.“ Mit diesen Worten stieg sie die Treppen hinunter und verließ leise das Haus, sodass man die Türe gar nicht hörte.
Gleich atmete sie die frische Luft ein. Es war bereits ganz dunkel geworden. Dann begann Astrid, von den Sorgen veranlasst, zu laufen. Sie stürzte förmlich in den Wald, als sie dort angekommen war. Vielleicht hatte Ohnezahn wirklich einfach nicht an der richtigen Stelle geschaut. Immerhin war der Wald riesig. Astrid musste einfach nachschauen.
Astrid verlangsamte ihr Tempo und hörte bald vollständig auf, zu rennen. Im Schritttempo ging Astrid an dunklen Bäumen vorbei. Überall waren einfach nur Bäume, Sträucher und Gras. Es war zugleich friedlich als auch beinahe furchteinflößend. Ein kalter Windhauch striff Astrids Haut und sie rieb über ihre mit Gänsehaut bedeckten Arme. Sie fühlte ihre Axt und ihren Dolch. Ein Gefühl von Sicherheit. Hinter den Bäumen konnte man gar nichts erkennen. Nur Dunkelheit. Oben am Himmel funkelten die Sterne. Alles war friedlich. Aber in Astrid befand sich ein Bündel von Gefühlen, die nicht gerade sehr friedlich waren.
Die Kriegerin wanderte ziemlich lange im Wald umher. Vermutlich so 20 Minuten. Aber der Wald war auch wirklich sehr groß. Um ihn ganz zu durchqueren brauchte man Zeit.
Astrid hielt an, als sie vor sich auf einmal einen Stapel von Ästen sah. Während sie hinrannte, rief sie automatisch besorgt: ,,Hicks?“ Die Äste stammten definitiv von Hicks. Er war Holz sammeln gegangen. Es passte alles. Astrid sah sich die Enden der abgeschnittenen Äste an. Sie konnte es nicht ganz genau sagen, aber die Spuren waren vermutlich von Hicks' Schwert.
Astrid ging ein paar Schritte und merkte, dass sich eine Spur von Ästen unter ihren Füßen gebildet hatte. Jemand, vermutlich Hicks, hatte sie weggetragen. Aber wieso sollte er sie wegtragen? Normalerweise ließ er sie immer auf einer Stelle und ließ den Haufen dort auch. Dann sammelte er immer Äste und legte sie wieder drauf. Astrid hatte ihn schon öfters beim Holzholen zufällig gesehen, beobachtet und begleitet.
Die Berkianerin schaute nun auf die Bäume. Alle hatten abgeschnittene Äste. Das erkannte man deutlich. Und dann fiel Astrids Blick auf ein metallenes Objekt am Boden. Hicks' Schwert.
Sofort lief Astrid hin und hob es auf. Sie hatte nur einen Gedanken: Es war etwas faul. Hicks würde nicht alles so liegen lassen. Nicht die Äste und vor allem nicht sein Schwert. Er war in Gefahr, das wusste Astrid einfach.
Und im nächsten Moment blickte Astrid direkt auf den Baum vor sich. Sie fand etwas, was sie vorher nicht gesehen hatte. Ein Zettel. Was draufstand, ließ sie für einen Moment aussetzen.

Das hast du nicht erwartet, oder?
Du weißt, was ich habe. Du weißt, was ich will.
Wenn du mich finden willst, komm zum Strand.

Astrid wusste, dass Kruor den ersten Satz mit einem Grinsen aussprechen würde. Nicht nur der Gedanke an sein grässliches Gesicht, sondern auch die Worte auf diesem Blatt, aber vor allem was er getan hatte, brachte ein neues Gefühl in Astrid auf. Die pure Wut. Diese Wut war riesig. Und sie wurde immer und immer größer, mit jeder Sekunde.
,,Das...hast du nicht getan...“, presste Astrid mit zusammengebissenen Zähnen hervor und ballte ihre Hände zu Fäusten. Ihre Sorgen waren zwar noch da, aber sie wurden von dem großen Zorn eindeutig in den Schatten gestellt. ,,Kruor...“, zischte Astrid. Sie kniff ihre Augen zusammen, versuchte, ihre Wut zu zügeln. Ob es funktionierte? Das konnte man nicht behaupten.
Astrid konnte es einfach nicht fassen. Wieso war sie da nicht früher draufgekommen? Natürlich war es Kruor, der Hicks entführt hatte. Vermutlich war Astrid nicht darauf gekommen, weil sie gedacht hatte, dass Kruor Hicks nicht einmal kannte. Und ihre Sorgen haben ihr die Vernunft zum Denken schwer gemacht.
Astrids Wut war wie ein Wasserfall, der in einen See mündete und der See daher immer mehr mit Wasser  gefüllt wurde bis es zu einer Überschwemmung kam. Kruor hatte ihre Eltern getötet. Er hatte ihr Personen genommen, die sie liebte. Er würde nicht damit durchkommen, Astrid noch so eine Person zu nehmen. Das würde Astrid niemals zulassen. Es war eine Sache zwischen Kruor und ihr. Hicks da mitreinzuziehen war ein riesiger Fehler.
Und jetzt, in diesem Augenblick, wollte Astrid nur eines. Sie wollte Kruor sehen. Allerdings blutverschmiert und gequält. Er sollte tot vor ihr liegen. Eigenhändig von Astrid getötet.
Es kam zu dem Moment, in dem Astrid ihren Zorn hinauslassen musste. Sie öffnete ihre Augen, nachdem sie für lange Zeit zu gewesen waren, und packte ihre Axt. Mit einem unglaublichen Schwung holte sie aus, schrie ,,Ich werde dich umbringen!“ und die Axt traf den Baum, direkt auf dem Zettel. Die eine Hälfte des Pergaments fiel sachte zu Boden.

Hiccstrid ~ Schwere Zeiten ✅Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt