Auf dem Weg zurück nach oben fiel Melinda eine Kellertür auf, die älter und verrotteter aussah als die anderen. Spinnen hatten ringsherum ihre Netze gespannt. Vor der Tür lag eine fingerdicke Staubschicht. Vier massive Vorhängeschlösser in unterschiedlichen Farben sorgten dafür, dass niemand hier so einfach hinein spazierte. Und offensichtlich hatte dies seit Urzeiten auch niemand mehr versucht.
Melinda ging näher an die Tür heran und leuchtete sie von oben bis unten ab. Auf Kopfhöhe entdeckte sie einen Namensschriftzug, den jemand dort in altdeutscher Schrift mit einem Brennpeter eingebrannt hatte. Schrader.
Hatte Frau Dausend diesen Namen nicht vorhin erwähnt? War Schrader nicht der üble Kerl von Hausmeister gewesen, von dem Bullerjahn heute Nachmittag gesprochen hatte, und war dies hier sein Keller?
Keine Frage, Melindas Spürsinn war geweckt. Nicht zuletzt deshalb weil da plötzlich wieder diese Kinderstimmen waren. Ganz weit entfernt. Ein Chor der Verzweifelten. Sie hielt sich die Ohren zu und lief eilig zurück zur Treppe. Mit vier massiven Schlössern und einem Gewölbe voller Unwägbarkeiten konnte und wollte sie es heute Abend dann doch nicht mehr aufnehmen.
Zurück in der Wohnung setzte sie Nudelwasser auf und bereitete alles für die Tomatensoße vor. Selbst gepflückte, frische Tomaten wären ihr lieber gewesen, doch heute musste es das Zeug aus der Dose tun. Während sie Teller und Besteck auf den Tisch legte, fiel ihr ein, dass Arndts Umhängetasche noch im Bücherzimmer lag. Sie rannte hinunter und holte sie.
Arndt würde ihr doch bestimmt nicht böse sein, wenn sie einen Blick in sein Skizzenbuch warf? Sie hatte da so eine Idee, die sie gern überprüfen wollte.
Am Spülbecken füllte sie sich ein Glas mit Leitungswasser und setzte sich an den Küchentisch. Der Umschlag war schwarz, wie bei all seinen Skizzenbüchern. Dass er es immer bei sich trug, mehrmals am Tag aus der Tasche zog und wieder hinein steckte, es zudem während seiner Anfälle nicht gerade pfleglich behandelte, sah man dem Buch an. Kleinere und größere Kratzer zogen sich über den Einband, manche von ihnen waren sehr tief. Die Seiten im Inneren waren an den Ecken zerknickt oder eingerissen, manche, weil sie nass geworden waren, wellig oder mit Dreck beschmutzt. Doch die Zeichnungen und die wilden, manchmal sehr abstrakten Darstellungen faszinierten Melinda immer wieder aufs Neue.
Man konnte so vieles in ihnen erkennen, so vieles aus ihnen herauslesen.
Sie fuhr mit dem Finger über die unbändigen Striche und Spuren, die Arndt heute Abend aufs Papier gebracht hatte. Wenn sie das Buch ein wenig drehte und sie sich an diesen Stellen hier und dort die Linien wegdachte, dann konnte man deutlich ...
Auf dem Herd begann der Topfdeckel zu klappern. Das Nudelwasser kochte. Melinda legte das Buch aus der Hand und sah auf die Uhr. Wenn sie jetzt die Spagetti ins Wasser warf, dann konnten sie in zwanzig Minuten essen. Bis dahin müsste Arndt wieder da sein. Wenn sie das vorhin richtig mitgekriegt hatte dann wohnte Frau Dausend nicht weit von hier, irgendwo im Stadtteil Dreilinden.
Melinda schob das Skizzenbuch zurück in Arndts Tasche. Sie würde später am Abend mit ihm darüber sprechen.
Die Spagetti waren schon glasig und aufgequollen wie dicke Regenwürmer als Melindas Handy klingelte . Es war Arndt. Und er klang nicht gerade glücklich.
„Wir haben ein Problem."
Melinda schielte zum Herd, wo die Tomatensoße wild vor sich hin blubberte und die Arbeitsplatte mit lauter roten Spritzern bedeckte.
„Erzähle!"
„Herr Dausend lässt seine Frau nicht ins Haus."
Melinda drehte den Temperaturregler auf Null und legte einen Deckel auf den Soßentopf.
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Brandprobe (Krimi)
Mystery / ThrillerDer erste Fall für Holler & Sieben. Nach einjähriger Zwangspause nehmen die Kriminalbeamten Arndt Holler und Melinda Sieben ihren Dienst in einer neuen Stadt wieder auf. Bereits nach kurzer Zeit müssen sie sich eingestehen, dass für sie nichts mehr...