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Als Melinda am nächsten Morgen die Augen aufschlug, war Bea nicht mehr da. Ihr Bettzeug lag aufgeschüttelt und sorgfältig zusammengelegt auf der Matratze. Die schwere Reisetasche stand nicht mehr an ihrem Platz.

Am liebsten hätte sie sich noch einmal auf die Seite gedreht und die Decke über die Ohren gezogen. Doch es war schon sieben, und um acht wollten sie im Präsidium sein.

Melinda hatte miserabel geschlafen. Mehrfach hatte Bea sich im Traum hin und her gewälzt, wobei das Bett jedes Mal bedenklich geknackt hatte. Einmal hatte sie sogar ihren verschwitzten Arm auf Melindas Gesicht gelegt.

Sie musste mit Bea reden für die nächsten Nächte eine andere Lösung finden. Und wenn sie auf dem Sofa schlafen musste.

In der Küche klapperte das Geschirr. Es roch nach Kaffee und Pfefferminztee. Melinda konnte sich nicht erinnern wann sie sich zuletzt an einen gedeckten Tisch gesetzt hatte.

„Sonnenaufgang über dem Harz. Kann ich nur empfehlen!"

Arndt leerte die prall gefüllte Brötchentüte über einem geflochtenen Brotkorb, den er anschließend zum Tisch trug.

Frühes Aufstehen gehörte nicht zu ihren Tugenden. Nicht mehr. Doch wollte sie zurück in ein geregeltes Arbeitsleben, blieb ihr wohl keine andere Wahl.

Auf dem Tisch hatte Arndt Marmeladengläser, Butterglocke, Milchtüte, einen Käseteller und gekochte Eier zu einem hübschen Arrangement angeordnet.

„Wo hast du die ganzen Sachen her?"

„Aus Beas Kühlschrank."

„Du bist heute Morgen schon durch die Gegend gefahren?"

„Sie hatte ihr Parfum zu Hause vergessen. Da habe ich sie hingebracht. Ihr Alter schlief noch. Und wo sie schon mal da war, hat sie ein paar Dinge aus dem Kühlschrank eingepackt."

„Nett von ihr!"

„Sie ist vom Parkplatz direkt ins Präsidium gegangen. Morgens ist sie wohl immer eine der ersten im Büro."

„Du bist gut informiert!"

„Ich musste mit ihr im Auto sitzen!"

Melinda legte ihre bunten Klemmen vor sich auf den Teller. Anschließend steckte sie sich eine nach der anderen ins Haar. Arndt beobachtete sie dabei und fragte sich, welches Ordnungsprinzip sie bei der Wahl von Farbe und Position verfolgte. Irgendeinen Plan musste sie haben, denn genau wie die Taschentuchfetzen gestern Abend sortierte sie auch die Klemmen solange hin und her bis sie mit dem Ergebnis zufrieden war. Und das alles quasi blind, ohne sich ein einziges Mal im Spiegel betrachtet zu haben.

„Wie ist der Tagesplan?"

Arndt sah Melinda zu wie sie sich eine Brötchenhälfte mit Käse in den Mund schob. Sie ließ sich Zeit beim Kauen und schluckte bedächtig.

„Brandstiftungs-Akten wälzen, Büroräume wohnlich machen und Bea Dausend eine Bleibe suchen. Füllt das den Tag?"

„Voll und ganz!"

Beim Verlassen des Hauses erschien es Melinda so, als sei es über Nacht kälter geworden. Fast meinte sie den kommenden Schnee zu riechen. Doch selbst für den Südharz war es Anfang Oktober zu früh dafür.

Genau wie am Vortag erwartete sie Lena Christiansen auch heute wieder am Rand der Eingangshalle. Heute trug sie einen cremefarbenen Hosenanzug und hatte sich das Haar zu einem Zopf gebunden.

„Guten Morgen sie zwei!"

Ihre Freundlichkeit wirkte aufgesetzt.

„Wie ich gesehen habe, geht es in ihren Büroräumen voran. Haben sie sich mit Herrn Bullerjahn abgestimmt?"

Sie wartete die Antwort nicht ab.

„Ja? Hervorragend! Dann frisch ans Werk!"

Zwei Atemzüge später hatte sie sich auch schon umgewandt und ging zielstrebig zu einer Gruppe von Kollegen, die am Fuß der Treppe auf sie warteten. Einige von ihnen drehten sich daraufhin zu Arndt und Melinda um und musterten sie mit unverhohlener Skepsis. Als sie die Treppe zu ihrer Abteilung hinauf gingen, hörten sie die Männer hinter sich lachen.

Von der Tristesse des gestrigen Tages war am heutigen Morgen nichts mehr übrig. Alle Deckenleuchten im Flur brannten, die meisten Türen waren geöffnet und sogar die verwelkte Zimmerpflanze war entfernt worden. Neben den Türen zu ihren Büros hatte jemand kleine Kunststoffschilder mit ihren Namen angebracht. Allerdings waren sie vertauscht worden. Hinter den geschlossenen Türen hörte man das Brummen eines Staubsaugers.

„Guten Morgen, und einen wunderschönen ersten Tag!"

Hinter ihnen war eine Tür aufgegangen. Bea streckte ihren Kopf heraus und schenkte ihnen ihr süßestes Lächeln. Dann kam sie ihnen entgegen gelaufen und hätte sie beinahe geherzt, wenn Arndt nicht seine Arme demonstrativ vor dem Körper verschränkt hätte. Auch Melinda gab sich förmlich. Bea ließ sich davon nicht beeindrucken.

„In ihren Büros geht es mächtig voran. Heute Nachmittag hat Frau Christiansen ein paar Journalisten eingeladen. Es soll eine Fotostory geben über ihre geglückte Wiedereingliederung nach diesem schlimmen ..."

Melinda spürte wie ihr schlecht wurde. Arndt spürte einen kleinen Stich an der Schläfe. Beiden war klar, dass sie den Nachmittag überall nur nicht hier oben verbringen würden. Melinda wechselte das Thema.

„Guten Morgen, Frau Dausend. Danke für das Frühstück heute Morgen!"

„Keine Ursache. Sie haben so viel für mich getan ..."

Ja, dachte Melinda. Die Nacht habe ich mir um die Ohren geschlagen und ihnen beim Schnarchen zugehört.

An der Treppe erschienen jetzt zwei der Männer, die sie vorhin schon in der Eingangshalle gesehen hatten. Der eine war kräftig gebaut, mit Halbglatze und buschigem Oberlippenbart, der andere schlank, beinahe dürr, blond, mit weißem Hemd und einem arroganten Gesichtsausdruck. Sie schauten neugierig zu Arndt und Melinda herüber, grinsten sich dann verschwörerisch zu und verschwanden dann rechts und links in ihren Büroräumen.

Bea schob sie zu sich ins Zimmer und drückte die Tür hinter ihnen ins Schloss.

„Nehmt euch vor den beiden in Acht. Der Dürre ist Sven Petersen, der mit der Rotzbremse Werner Steffens. Beide Christiansens Stiefellecker vor dem Herren! Ihr solltet hören wie sie über Bullerjahn ablästern!"

Arndt atmete laut aus.

„Ihr werdet wenig bis nichts mit ihnen zu tun haben. Ihre Bereiche sind Diebstahl, Einbruch, Überfälle. Sie sind aber nach wie vor der Meinung, dass man ihre wahren Talente verkennt und sie eigentlich zur Mordkommission gehören. Ihr hättet sehen sollen wie die hier getobt haben, als man die Abteilung verkleinert hat! Und jetzt kommt plötzlich ihr ... Das ist nicht leicht für die Jungs!"

Sie grinste und machte dabei ein Gesicht, das nach allem nur nicht nach Mitleid aussah.

„Wir wissen uns zu wehren!"

Arndt merkte, wie er vor seinen eigenen Worten erschrak.

Bea ging um den Besuchertresen herum und kam mit einem gigantischen Aktenstapel, der ihr fast bis zum Kinn reichte, zurück.

„Alle Brandstiftungen der letzten fünf Jahre. Bitte schön!"

Bea war wirklich auf Zack. Während Arndt sich den Stapel auf die Arme wuchtete, ließ Melinda ihren Blick durch das Büro schweifen. Sie wusste nicht was sie erwartet hatte. Rosa Heliumballons in Herzform? Kuscheltiere in den Wandregalen? Auf dem Tisch Julia-Romane und das Goldene Blatt?

Nichts davon gab es hier. Bea tarnte sich perfekt. Heute trug sie wieder ein zweiteiliges Kostüm. Diesmal in einem dunklen Lila-Ton. Ihre Haare waren sorgfältig frisiert und zu einem sauberen Dutt gebunden.

Sie holte noch etwas hinter dem Tresen hervor, das sie Melinda in die Hand drückte. Ihre neuen Dienstausweise. Eigentlich hätten ihr ob des bedeutenden Moments die Tränen kommen müssen. Doch sie spürte nichts dergleichen. Auch Arndt lies keine Gefühlsregung erkennen.

„Meldet euch, wenn ihr was braucht! Gehen wir heute Mittag zusammen in die Kantine?"

Gute Idee, dachte Melinda. Dann können wir bei der Gelegenheit gleich über die kommende Nacht sprechen.

Brandprobe (Krimi)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt