Ein Jahr zuvor ...

1K 72 35
                                    

Erst seit wenigen Tagen kannten sie seinen Namen.
Er hieß Freisler, genau wie der Richter am ehemaligen Volksgerichtshof.

Arndt Holler lief ein eiskalter Schauer über den Rücken, doch er ließ sich nichts anmerken. Ihm kribbelte die Kopfhaut. Es juckte ihn in den Füßen. Wann konnten sie endlich loslegen? Der Plan stand, seit Tagen schon, er brauchte bloß noch in die Tat umgesetzt zu werden.
Ihnen war gelungen, was niemand für möglich gehalten hatte: sie hatten einen persönlichen Kontakt zu Freisler hergestellt. Fünfundzwanzig Briefe, SMS-Nachrichten, Karten und Fotos, nicht zu vergessen die siebenunddreißig Telefongespräche. Das war schon ein Pfund! Heute wollte Freisler sich stellen, sich erklären, dem Ganzen nach einer mörderischen Hetzjagd ein selbstbestimmtes Ende bereiten.
Niemand im Goslarer Polizeipräsidium hatte eine solche Entwicklung für möglich gehalten.
Niemand bis auf Arndt Holler und Melinda Sieben.

Genervt blickte Arndt zu seiner Kollegin Melinda Sieben hinüber, die sich noch immer damit beschäftigte, ihr langes Haar zu einem aufwendigen Knoten zu binden. Zwischendurch zog sie wieder und wieder an den Verschlüssen ihrer schusssicheren Weste, als könne sie diese auf den letzten Metern noch in ein modisches Kleidungsstück verwandeln. Melinda Sieben, das Topmodel unter den Kripobeamtinnen. Was für eine hirnlose Schnapsidee, ihnen gemeinsam diesen Fall zu übertragen! Melinda das Modepüppchen, das sich gern für etwas Besseres hielt, und er der Haudegen, der keinen dummen Witz und keinen Seitenhieb ausließ, wenn er sich im Recht fühlte, wie sollte das funktionieren?
Die Antwort lag für sie beide auf der Hand. Auch wenn sie sich nicht riechen konnten, die Zusage Königs, die Gewissheit nach diesem Fall nichts mehr miteinander zu tun zu haben, gab ihnen Kraft und Durchhaltevermögen. Melinda wechselte in zwei Wochen den Dienstort und zog zu ihrem Franky nach Cuxhaven. Franky war ebenfalls bei der Kripo. Ein braungebrannter Typ mit gegelten Haaren und markantem Kinn. Arndt wollte zurück nach Göttingen. Seinem Vater ging es schlecht. Er brauchte Hilfe.

Arndt wischte sich die Nase am Jackenärmel trocken. Vorhin beim Umziehen hatte Arndt kurzzeitig erwogen, sich etwas von dieser Tarnfarbe ins Gesicht zu schmieren, auf die er vor ein paar Wochen im Internet gestoßen war. Am Ende ließ er es bleiben. Sein Chef hatte ihn schon häufiger gefragt, ob er sich bei der Bundeswehr nicht wohler fühlen würde. Außerdem wollte er Freisler nicht unnötig provozieren, obwohl er dazu große Lust verspürte.

„Bereit zum letzten Gefecht, Kollege?"
Arndt sah überrascht auf. Melinda wirkte entschieden. Das gefiel ihm.
„Bereit Miss Sieben! Wie immer."
„Keine blöden Sprüche heute!"
Sie drohte ihm mit dem Zeigefinger. Ihr rot lackierter Nagel glänzte im Licht der Abendsonne. Wie lange sie wohl brauchte, ihre Nägel so in Form zu bringen? Die wollte Arndt lieber nicht an der Kehle spüren.

Die Beamten des SEK standen bereit. Sie sollten Arndt und Melinda in sicherem Abstand folgen. Sechshundert Meter vor ihnen, gleich hinter dem Waldstreifen, gab es eine Forststraße, die sich den Nonnenberg hinauf zur Ruine des ehemaligen Sanatoriums Königstein schlängelte. Die Absprachen mit Freisler sahen vor, dass sie sich dem verfallenen Gebäudekomplex auf der Straße näherten, unbewaffnet und in Zivilkleidung, wie ein harmloses Pärchen, das sich an dem Ausblick auf den abendlichen Granestausee erfreute.
Freisler hatte angekündigt, einen gelben Friesennerz zu tragen, der ihn an seine Kindheit an der Küste erinnerte. Es war noch immer derselbe Mantel wie damals. So hatte Freisler ihnen das erzählt. Melinda schüttelte sich. Ein erwachsener Mann in einem Kindermantel. Absurd.

Er wollte kooperieren, wollte ihnen Orte zeigen, an denen er weitere Opfer verscharrt hatte. Er wollte Hafterleichterungen, ein milderes Urteil. Melinda und Arndt waren ihm entgegengekommen, nicht ohne ihrerseits Bedingungen zu stellen. Freisler hatte akzeptiert.

Mit einem Handzeichen gab Arndt das Signal zum Aufbruch. Sie wollten Freisler in ein Gespräch verwickeln, sich anschauen, was er zu zeigen, sich anhören was er zu erzählen hatte, wollten ihm das Gefühl geben, dass er der Experte war, sonst niemand, und ihn dabei unmerklich in eine günstige Schussposition bringen. Wenn alles glatt lief, würden ihm die Kollegen vom SEK im richtigen Moment einen gezielten Schuss ins Bein verpassen, bei Gefahr im Verzug auf sein Herz zielen.

Einsatzleiter Uwe König lehnte an der Tür seines Dienstfahrzeuges. Vor einer halben Stunde waren Arndt und Melinda dort unten neben dem Jägersitz im Wald verschwunden. Wie sich das wohl anfühlte, fragte er sich, wenn man auf so einem Holzgerüst saß, stundenlang wartete, ohne dass etwas geschah und dann unerwartet das Reh oder das Wildschwein auftauchte. Wäre er wach genug? Würde er das Gewehr schnell genug in Position bringen? Er wusste es nicht.

Das mulmige Gefühl in seinem Magen wollte nicht weichen. Ob es am Kaffee lag, den er kurz vor der Abfahrt getrunken hatte? Hannes übertrieb es immer mit seinen sieben Löffeln auf eine Kanne. Schon seit längerem wollte König auf Tee umsatteln. Bisher hatte es nicht geklappt, Kaffee trank sich auf unerklärliche Weise gemütlicher.

König griff nach der Brotdose auf dem Fahrersitz und entnahm ihr ein belegtes Brötchen. Er hatte gerade hinein gebissen und sich über die zu üppige Mayonnaise geärgert, als sein Handy klingelte. Ungelenk griff er in die Hosentasche. Dabei rutschte ihm das Brötchen aus der Hand und fiel mit einem Klatschen auf dem Boden.
Es dauerte eine Weile, bis König begriff, wer am anderen Ende der Leitung war. Dieser gehetzte Atem, der leichte Sprachfehler, diese für einen Mann ungewöhnlich hohe Stimme. Freisler.
„Was für ein mieser, dreckiger Plan! Dachtet ihr wirklich, dass ich Euch traue? Dachtet Ihr, ich überlasse Euch das Feld? Ihr verdient es nicht, Ihr Armseligen. Ihr verdient es einfach nicht!"
Die letzten Worte schrie Freisler. König hielt das Handy auf Abstand.
„Haltet Ihr mich für einen Idioten? Haltet Ihr mich für einen verdammten Idioten? Hübsche rote Einschusslöcher in meinem gelben Mäntelchen, das hättet Ihr gern gesehen, was! Da wäre Euch richtig einer abgegangen!"
Was für ein Widerling! König verzog das Gesicht. Es gab ein unangenehmes Knistern im Hörer. Das Gespräch war beendet.

Eigentlich ist dieser Freisler ein armes Würstchen, dachte König. Der will geliebt werden und fordert Anerkennung, doch die würde er heute nicht bekommen. Heute nicht und auch nicht morgen. Niemals. Arndt und Melinda, seine beiden Kampftiger, machten ihm heute endgültig den Garaus. Da konnte er noch so viel Gift und Galle durchs Handy spucken.

Gerade als König hinter das Steuer seines Wagens sprang, hörte er den Schuss. Kurz darauf einen zweiten. Ihre schaurigen Echos hallten durch den Wald. Uwe König brach der Schweiß aus.
Ein Schwarm Vögel stieg krächzend in den blutroten Abendhimmel.
König knallte die Tür zu, startete den Wagen, gab Gas und jagte den Wagen über den geschotterten Weg hinauf zum Nonnenberg.

Brandprobe (Krimi)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt