20

169 33 16
                                    

Melinda schätzte die Anzahl der Gläser auf einhundert bis einhundertfünfzig. Marmeladengläser, Einmachgläser, große Trinkgefäße und Blumenvasen standen dicht an dicht auf mehreren Reihen durchhängender Regalbretter. Noch bevor sie den Strahl der Lampe auf die Gläser richtete, ahnte Melinda was sich darin befand. Sie keuchte.

„Proben. Stefans Brandproben ...!"

Angesengtes Holz, verbrannte Lebensmittel, Käse, Schinken, Brot, verkohlter Jeansstoff, blasige, rußige Kunststofffolie, ein bis zur Unkenntlichkeit verschmortes Spielzeugauto, ein schwarzer Löffel, ein versengter Babyschuh. Wenn sie sich vorstellte zu welchem Zweck diese Versuche durchgeführt worden waren, überkam sie das kalte Grausen. Doch was sie in den darunter stehenden Gläsern entdeckte ließ sie an ihrem Verstand zweifeln. Sie stolperte nach hinten, stieß an die morsche, sich zur Seite neigende Werkbank, und knallte mit voller Wucht auf den Boden. Ein stechender Schmerz bohrte sich in ihren Lendenwirbel. Sie hätte gern aufgeschrien, konnte es sich aber gerade so verkneifen.

„Melinda? Alles in Ordnung?"

Arndts Stimme war nur ein Flüstern, das dumpf durch die Holzwand an ihr Ohr drang.

„Ja!"

Sie hatte keine Ahnung ob er sie hörte.

Die Taschenlampe war irgendwo im Staub unter der Werkbank verschwunden. Melinda versuchte sich zu bewegen. Zentimeter für Zentimeter rutschte sie auf dem Po über den Boden. Der Schmerz war jetzt erträglicher. Vielleicht hatte sie Glück im Unglück gehabt!

Vorsichtig beugte sie sich zur Seite und langte zwischen schimmligen Brettern nach der Lampe, die noch immer brannte. Im Sitzen richtete Melinda sie erneut auf die Gläser. Sie hatte sich nicht getäuscht.

Es war Stefan offenbar nicht genug gewesen seine kranken Spielchen mit unbelebter Materie durchzuführen. Er hatte auch mit lebenden Objekten experimentiert. Melinda erkannte den verkohlten Schwanz einer Katze, das verbrannte Fell eines Eichhörnchens und zahlreiche, bis zur Unkenntlichkeit verbrannte Vogelkörper. Sie erkannte Meisen, Amseln, Spatzen und mehrere Wellensittiche mit blinden Augen.

„Was hat er euch angetan, ihr Süßen! Was hat er euch angetan ...!"

Wieder hörte sie Arndts Stimme.

„Melinda! Brauchst du Hilfe?"

Weil sie nicht antwortete richtete er sich auf und spähte durch das schmutzige Fenster in die Hütte. Er sah seine Kollegin auf dem Boden hocken und ihm müde zuwinken.

Raus. Sie musste hier so schnell wie möglich raus! Keine Sekunde länger wollte sie in diesem Horrorkabinett bleiben. Doch gerade als sie auf allen Vieren zur Tür krabbeln und diese aufziehen wollte, erschien Arndts Gesicht im Türspalt. Seine herausquellenden Augen sprachen Bände.

„Im Erdgeschoss hat jemand Licht gemacht! Hörst du das Hundegebell?"

„Die haben einen Hund?"

„Scheint so!"

„Er weiß, dass wir hier sind."

Melinda hatte wieder diesen überlegenen Gesichtsausdruck, den Arndt so gar nicht an ihr mochte.

„Schaffen wir den Weg zurück, oder sollen wir über die Mauer ...?"

Arndt verstummte als Melinda ihn jäh am Jackenkragen packte und zu sich in die Hütte zog. Durch einen winzigen Schlitz zwischen den Türflügeln konnten sie sehen wie drüben im verbrannten Teil der Villa eine Tür geöffnet wurde und trübes Licht sich über die Brennnesselfelder ergoss. Der Schatten eines hoch gewachsenen, kräftigen Mannes erschien im Türrahmen. Etwas schwarzes, sehr schnelles huschte ihm durch die Beine und rannte in den Garten zwischen die Obstbäume. Es hatte angefangen zu schneien.

„Verdammt, Mama! Zippo ist rausgerannt. Scheißköter! Zippo, du Mistvieh! Zippo, komm her!"

Das musste Stefan sein. Seine Stimme war krächzig und schien sich beim Schreien zu überschlagen. Stimmbruch war das nicht. Eher Aggression. Und eine kaum verhohlene Grausamkeit. Ein hohes, brüchiges Stimmlein antwortete ihm.

„Einmal am Tag muss ein Hund eben raus. Lass ihn, er kommt gleich wieder rein!"

„Nein, Mama, nein! Die Nachbarn beschweren sich schon. Das Vieh kläfft zu viel. Bring mal den Kabelbinder raus. Ich hab's echt satt! Ich habe es so was von satt!"

Melinda schluckte. Sie spürte wie sich in ihrem Kopf etwas zusammenzog. Etwas, das ihr gar nicht behagte. Sie wusste was gleich kommen würde. Arndt sprang nach vorn und zog die Tür vorsichtig zu. Sie hatten keine Wahl. Sie mussten sich hier drinnen verstecken und hoffen, dass Stefan sie nicht entdeckte. Dem Kerl war alles, aber auch alles zuzutrauen!

Melinda leuchtete mit der Taschenlampe hektisch in alle Ecken, auf der Suche nach einer geeigneten Stelle an der sie sich verbergen konnten. In der hintersten Ecke waren mehrere Tische und niedrige Schränke aufeinander gestapelt worden. Dazwischen gab es Lücken, in die sie sich zwängen konnten. So blieben sie vielleicht unentdeckt. Bisher wusste ja niemand, dass sie hier drin waren. Niemand, bis auf Zippo.

Sie mussten die Möbelstücke etwas zur Seite rücken. Arndt tat noch immer der Fuß weh, Melinda konnte nur gebeugt gehen. Bei einem der Tische war eine Schublade ein Stück heraus gerutscht. Bevor Melinda sie wieder hineindrückte griff sie, ohne zu wissen warum, hinein, zog ein Notizbuch und mehrere zusammengefaltete Papiere daraus hervor und steckte sie sich unter den Mantel.

Die Beine unter den Möbelstücken lang ausgestreckt, die Oberkörper aufrecht dazwischen horchten Arndt und Melinda voller Angst nach draußen. Einmal mehr hatten sie sich selbstverschuldet in eine ziemlich brenzlige Situation begeben, dachte Arndt.

„Weshalb immer wir?", zischte er Melinda ins Ohr.

„Ist wohl unser Schicksal, Kollege!", entgegnete sie voller Sarkasmus.

Brandprobe (Krimi)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt