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Dann knallte plötzlich ein Schuss. Und noch einer. Sebastians Feixen verstummte. Hatte er sich selbst gerichtet? War er weggerannt? Jemand machte sich von außen an der Tür zu schaffen. Sekunden später wurde sie aufgerissen und ein verschwitzter Bullerjahn mit Zigarre im Mundwinkel blickte ihnen entgegen. Melinda stürzte nach draußen. Arndt konnte nicht anders. Er lief auf Bullerjahn zu und nahm ihn in die Arme. Dann rutschte er an ihm herunter und fiel der Länge nach auf die matschige Obstwiese, die bereits von einer dünnen, glitzernden Schneeschicht bedeckt war. Luft. Luft. Er brauchte Luft!

Melinda fand als erste die Worte wieder.

„Sie? Aber, wie ...?"

Bullerjahn nahm einen tiefen Zug und blies den Rauch theatralisch in den nächtlichen Himmel.

„Bea hat mir erzählt was sie vorhatten. Außerdem sollte man seine Ermittlungsakten nicht so offen auf dem Schreibtisch liegen lassen! Als ich den Namen Winkler las klingelten bei mir alle Alarmglocken. Wussten Sie, dass der alte Winkler in den Achtzigern mehrere Banken im Harz überfallen hat?"

Er sah sich im Garten um, blickte dann zum Haus hinüber.

„Sebastians Eltern haben sich zu Tode gesoffen. Die alte Frau ist seine Großmutter!"

„Was ist mit Sebastian?"

Melinda streichelte Zippos Fell und sah Bullerjahn dabei auf den schmutzigen Mantel.

„Als er gesehen hat, dass wir kommen ist er abgehauen. Richtung Innenstadt. Zwei Kollegen sind an ihm dran. In diesem Städtchen, bei diesen Wetterverhältnissen kann man nicht weglaufen."

Arndt sah auf die Fußspuren, die sich messerscharf in der dünnen Schneedecke abzeichneten.

„Und die Schüsse?"

„Die alte Winkler hat uns aus dem Schlafzimmerfenster mit einem Jagdgewehr ins Visier genommen, aber nicht getroffen. Wir nehmen sie mit. Hat bestimmt einiges zu erzählen!"

Hinter ihnen krachte es. Ein Funkenregen schoss in den dunklen Himmel. Das Dach der Gartenhütte war eingestürzt. Auch die Seitenwände neigten sich bedrohlich zur Seite. Melinda spürte wie ihr die hochschießenden Flammen den Rücken wärmten.

Mit einem Mal wurde Bullerjahns Gesicht ernst.

„Soweit es ihnen körperlich möglich ist möchte ich, dass sie unauffällig zurück zu ihrem Wagen gehen und sich aus dem Staub machen. Fahren sie zurück zur Wohnung, nehmen sie ein heißes Bad und legen sie sich ins Bett."

Arndt öffnete die Augen und starrte Bullerjahn an. Sein Rücken war pitschnass. Er setzte sich auf. Melinda suchte mit gerunzelter Stirn seinen Blick.

„Sie sind niemals hier gewesen, verstehen sie. Alles was hier heute Abend passiert ist geht auf meine Kappe! Sollte Christiansen davon erfahren, dass sie bereits am zweiten Tag ihrer Probezeit auf eigene Faust illegale Ermittlungen angestellt haben, dann können sie wahrscheinlich gleich nächste Woche ihre Koffer packen. Was ich nicht will, und sie bestimmt auch nicht!"

„Probezeit? Welche Probezeit?"

Arndt und Melinda verstanden die Welt nicht mehr.

Und Bullerjahn ging nicht weiter darauf ein.

„Sie sind sehr eigen und haben ihre speziellen Ermittlungsmethoden. Das gefällt mir. Solche Leute brauche ich! Jetzt muss ich nur noch die Chefin überzeugen."

Waren das Tränen in seinen Augen? Tränen der Rührung über die eigenen Worte? Was für ein Typ! Arndt stand auf und klopfte sich den Schnee vom Rücken.

„Den Hund nehmen wir mit."

Bullerjahn blickte kurz auf das zusammengekauerte Tier in Melindas Armen. Mehr als ein Schnalzen und ein Schulterzucken fiel ihm dazu nicht ein.

Als sie bereits in Richtung der Gartenmauer gingen, fiel Melinda das Notizbuch und der Stapel Papier ein, den sie vorhin in der Hütte aus der Schublade genommen hatte. Sie drückte Arndt den Hund in die Arme. Dann lief sie zurück zu Bullerjahn, zog die Papiere und das Buch aus ihrer Jacke und hielt sie ihm hin.

Bullerjahn nahm sie und schlug das Buch auf.

„Versuchsprotokolle verschiedener Brandproben. Sogar mit Uhrzeit, Außentemperatur, Mondstand."

Er blätterte weiter.

„Eine Liste mit Gebäuden, die er anzünden wollte. Und hier, ein Tagebuch ..."

Er betrachtete Melinda mit einem väterlichen Lächeln.

„Danke, Kollegin! Vielen Dank!"

Arndts Fuß, Melindas Steiß und der verletzte Hund machten es ihnen nicht leicht den Weg zurück über die Mauer zu nehmen. Insgesamt drei Versuche benötigten sie, ehe sie es hinüber schafften.

Ihr Wagen war von einer zarten Schneeschicht bedeckt. Hatten sie ihn wirklich erst vor zwei Stunden hier geparkt?

Melinda hielt vor ihrer Wohnung und blieb im Wagen während Arndt ins Haus sprang und das Telefonbuch holte.

„Du ahnst nicht wer oben in der Küche steht und kocht!"

„Doch, ich ahne es! Patricia Morgan!"

Dr. Grimme lebte und arbeitete in einem schmalen Fachwerkhaus in der Johannisvorstadt. Im Untergeschoss die Praxis, im Obergeschoss die Wohnung. Mit hochgesteckten Haaren, gehüllt in einen weißen Hausanzug beugte sie sich aus dem Fenster und erkundigte sich erst forsch, dann zunehmend milder gestimmt nach ihrem Anliegen. Sobald sie den Hund in Arndts Armen erblickte sprang sie vom Fenster weg und war binnen fünf Sekunden an der Haustür.

Zippo wurde gründlich untersucht und bekam ein schmerzstillendes Mittel. Brüche hatte er keine, lediglich Prellungen. Dr. Grimme hielt es für angebracht ihn über Nacht bei sich in der Praxis zu behalten.

Als sie in die Wohnung zurückkehrten standen zwei große Gläser mit heißem, dampfendem Grog auf dem Wohnzimmertisch. Aus der Küche duftete es nach Gebratenem. Bea hatte sich eine Küchenschürze umgebunden und schien ganz in ihrem Element.

„Macht euch frisch. In fünfzehn Minuten gibt's Essen!"

Bullerjahn und Bea, dachte Melinda. Ein echtes Traumgespann!

Essen gegen Lagebericht. So lief das bei Bea. Nachdem sie beinahe alle Rouladen, Grünkernbratlinge, Klöße und die Schüssel Rotkohl aufgegessen und Arndt und Melinda die Ereignisse des Abends geschildert hatten, klingelte das Telefon. Es war Bullerjahn, der ihnen mitteilte, dass sie Sebastian Winkler im Ortsteil Petershütte besinnungslos aus der Uferböschung der Söse gezogen hatten. Er lag jetzt im Städtischen Krankenhaus. Die Kollegen hatten beobachtet wie er während seiner Flucht von der acht Meter hohen Amentière-Brücke gesprungen war, offenbar in der Annahme, damit seiner Verurteilung und Bestrafung entkommen zu können.

Die alte Frau Winkler wurde nach einem kurzen Verhör zurück zu ihrer Villa gebracht. Sie hatte glaubhaft versichert vom Treiben ihres Enkels nichts gewusst zu haben. Das Jagdgewehr stellte sich als Spielzeugwaffe heraus, das mit Platzpatronen schoss. Frau Winkler hatte es stets neben ihrem Bett stehen gehabt und nach eigener Aussage für eine echte Waffe gehalten.

Bea ging um neun, nicht ohne noch einmal hoch und heilig zu versprechen, dass sie schweigen werde wie ein Grab. Um halb zehn löschten Arndt und Melinda die Lichter in der Wohnung und zogen sich auf ihre Zimmer zurück.

Genau vier Dinge wollten sie am nächsten Tag erledigen. Melinda wollte zunächst Zippo bei Dr. Grimme abholen und dann im Kleingartenverein am Bahndamm ein gebrauchtes Fahrrad ergattern. Arndt wollte ausschlafen, in einem der Innenstadtcafés frühstücken und später zum Buchladen gehen, um den Roman von Patricia Morgan abzuholen.

Er konnte sich nicht helfen, eine Bücher schreibende Sachbearbeiterin bei der Kriminalpolizei war schon etwas Besonderes. Ihre Arbeit sollte gewürdigt werden.

Brandprobe (Krimi)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt