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Solange ihre Dienstzimmer noch nicht hergerichtet waren, hatte ihnen Bullerjahn für die Zeit seiner Abwesenheit sein Büro angeboten. Melinda hätte lieber in einem verdreckten Zimmer ohne Mobiliar gearbeitet, als freiwillig in diese Räucherhöhle zurückzukehren, doch Arndts Argumente überzeugten sie.

„Es gibt einen Wasserkocher, ein Telefon, es ist warm und wir können an einem Tisch sitzen."

Auf der Damentoilette fand Melinda ein Raumspray, Marke Tannenduft, das sie großzügig in Bullerjahns Büro versprühte. Zusätzlich rissen sie für dreißig Minuten das Fenster auf. Bis Melinda anfing zu frieren und Arndt es wieder schließen musste.

Den Schreibtisch wollten sie nicht anrühren. Lediglich die Akte über die Kino-Brandstiftung zogen sie sich aus einem der Papierstapel heraus.

Am hinteren Ende des Raumes stand ein großer Besprechungstisch mit mehreren Stühlen. Sie mussten lediglich ein paar fleckige Kaffeetassen und eine leere Keksdose zur Seite räumen, und schon hatten sie genug Platz zum Arbeiten.

Arndt zählte die prall gefüllten Fallakten. Vierundzwanzig Stück. Er bildete zwei gleich große Stapel und schob einen von ihnen zu Melinda hinüber. Er hörte sie gedankenversunken vor sich hin murmeln.

„Junger Mann, Kopfhörer, Feuerwerksmusik. Vielleicht finden wir etwas, das sich damit in Verbindung bringen lässt. Mal schauen ..."

Im Gegensatz zu ihm wirkte Melinda hoch motiviert. Sie schien sich völlig sicher, mit Hilfe ihres simplen Rasters Licht ins Dunkel dieser Fälle bringen zu können. Gern wäre er zuversichtlicher gewesen. Aber es gelang ihm nicht über den eigenen Schatten zu springen. Um irgendwas zu tun und seine Mutlosigkeit vor Melinda zu verbergen holte er aus einem der zahlreichen Regale Schreibblöcke und Kugelschreiber.

Arndt wusste nicht wie, doch bereits zur Mittagszeit hatten sie sich einen ersten Überblick verschafft. Unter den Fällen befanden sich zahlreiche Scheunenbrände, ausgebrannte Müllcontainer und verschiedene Wohnungsbrände. Die Vorfälle hatten sich in einem Zeitraum von drei Jahren ereignet. Anlässe oder Tatmotive waren ganz unterschiedlich gelagert, im Großen und Ganzen drehte es sich aber immer um dieselben. Versicherungsbetrügereien, vorsätzliche Schädigung von Mitmenschen aus Rachlust, Gier, Neid und pure Zerstörungslust.

Der letzte dieser Fälle lag zwei Jahre zurück. Alle waren restlos aufgeklärt worden. Nirgends fanden sich Zusammenhänge mit Musik liebenden, männlichen Kopfhörerträgern. Somit waren die Fälle für Arndts und Melindas Nachforschungen bedeutungslos.

Bei den jüngeren Fällen der letzten zwei Jahre sah es jedoch ganz anders aus. Insgesamt vier von ihnen, einschließlich der Brandstiftung im Kino, waren bis heute nicht aufgeklärt worden. Der Brand in der Sporthalle am Röddenberg, ein Klassenzimmerbrand in der Grundschule Jacobitor und die Brandstiftung im Leergutlager eines Supermarkts in der Eisensteinstraße, bei der nahezu einhundert Kunststoff-Getränkekisten in schwarzen Rauch aufgegangen waren.

In dem ausgebrannten Klassenzimmer hatte man unter anderem eine bis zur Unkenntlichkeit verschmorte Kompaktkassette gefunden. Untersucht hatte man sie offensichtlich nicht. Laut Bericht hatte Sieglinde Abel, die Grundschullehrerin, bei ihrer Befragung minutiös aufzählen können, was sich vor dem Brand in ihrem Klassenraum befunden hatte. Kassetten oder ein passendes Abspielgerät waren nicht darunter. Frau Abel hielt, auch das war im Bericht festgehalten, nichts davon Kindern Tonkonserven vorzuspielen. Sie sang lieber selbst und begleitete die Klasse auf ihrer Gitarre. Jeden Morgen fünfzehn Minuten, zum Start in den Tag.

Eine solche Lehrerin hätte Melinda auch gern gehabt. Mit Schaudern dachte sie an ihre Grundschuljahre zurück.

Es war also nicht abwegig, dass die Täterin, oder der Täter, die Kassette am Tatort verloren oder mit Absicht dort liegen gelassen hatte. Melinda dachte nach. Vielleicht sollten sie sich die Kassette aus der Asservatenkammer kommen lassen. Sie machte sich ein Notiz.

Melinda streckte sich. Arndt rieb sich die wunden Augen und besah sich was er notiert hatte. Viel war es nicht. Genau genommen nur vier Zahlen. Die Aktennummern der vier unaufgeklärten Brände.

„Sollten die in irgendeiner Weise zusammenhängen und sollte auch der Kinobrand dazu passen, dann hätte sich unser Feuerteufel bisher ziemlich geschickt angestellt! Vier Mal zündeln ohne geschnappt zu werden."

„Da wäre er nicht der Erste!"

Melinda betrachtete die vier Akten mit abschätzigem Blick.

„Geschick hat er bewiesen, in der Tat! Geschick beim Untertauchen. Seine Brandsätze waren dagegen eher dilettantisch."

Und mehr zu sich selbst als zu ihrem Kollegen sagte sie: „Zum Glück! Zum Glück. Zum Glück."

Jemand kratzte zaghaft an der Tür. Ein schlaksiger junger Mann mit blauem Kapuzenpulli und schwarzen Locken steckte den Kopf herein.

„Hallo! Thomas Kolle. Habe ihnen gerade die Hardware installiert. Müsste alles laufen. Wenn noch was ist, einfach melden!"

Bevor Arndt oder Melinda etwas erwidern konnte, war er auch schon wieder verschwunden.

Melinda rieb sich den Bauch. Sie erinnerte sich an die Verabredung mit Bea in der Kantine.

„Lass uns was essen, Arndt! Hinterher nehmen wir uns die Akten noch mal vor!"

Auf dem Weg durch den Flur sahen sie, dass die Türen zu ihren Büros offen standen. Obwohl ihnen die Mägen knurrten warfen sie einen Blick hinein. Hier war eindeutig gearbeitet worden. Jemand hatte aufgeräumt und die Böden gesaugt. Auf den Schreibtischen standen Monitore, daneben würfelförmige Rechner, die leise vor sich hin surrten.

Den Reinigungskräften war es sogar gelungen die Hassbotschaft auf Arndts Tisch zu beseitigen. Wie aggressiv musste ein Reinigungsmittel beschaffen sein, das Edding-Schmierereien von Holzoberflächen tilgen konnte? Melinda ging hinüber zu dem Ölbild und berührte den rauen Holzrahmen.

„Das wäre das erste was ich hier rausschmeißen würde. Was für ein Ungetüm!"

Arndt versuchte erst gar nicht sie davon zu überzeugen, dass durchaus auch ein Gemälde von eher traditioneller Machart seine Daseinsberechtigung hatte.

Ihn beschäftigte etwas ganz anderes.

Wo war der Mann? Arndt meinte sich zu erinnern, dass dieser noch vor wenigen Stunden etwa in der Mitte des Bildes gestanden hatte.

Erst als er näher herantrat und Melinda notgedrungen einen Schritt zur Seite gehen musste, kam er ihm wieder in den Blick. Er war also noch immer da. Natürlich! Was hatte er denn gedacht? Dass ein gemalter Mann sich bewegen konnte? Melinda hatte ihm die Sicht versperrt. Ihr Schatten war so auf das Bild gefallen, dass ... Arndt schloss die Augen und atmete einmal tief ein und wieder aus. Dann öffnete er die Augen wieder.

Er hatte sich getäuscht. Und doch verließ ihn nicht der Eindruck, dass sich die Körperhaltung des Mannes verändert hatte. Er wirkte nicht mehr so gebeugt, nicht mehr so niedergeschlagen. Arndt hätte schwören können, dass er den Kopf jetzt höher trug und sein Rücken durchgedrückter war. Das spärliche Licht des Waldes hatte sich auf sein Gesicht gelegt und ließ es strahlen.

„Ab in die Kantine!"

Arndt zuckte zusammen. Melindas Aufforderung zum Gehen kam ihm gerade Recht. Er wollte nicht weiter darüber nachdenken, weshalb er hier etwas sah, dass nicht da sein konnte. Vielleicht brauchte er einfach nur ein Mittagessen. Verdammt! Hatte er nicht alle Hirngespinste ein für alle Mal im Sand der Nordsee begraben?

Brandprobe (Krimi)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt