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Bea war nicht in ihrem Büro. Doch auf dem Weg ins Erdgeschoss, wo sie nach ihr sehen wollten, kam sie ihnen auf der Treppe entgegen. In der Hand hielt sie ein dick belegtes Käsebrötchen, aus dem ein übergroßes Salatblatt hing.

„Die kann man nur essen wenn sie ganz frisch sind!"

Bea hielt Melinda das Brötchen so dicht vors Gesicht als wolle sie es ihr auf die Nase drücken.

„Ihr ward erfolgreich? Ischinger ist ein gewöhnungsbedürftiger Kauz. Ich hoffe ihr ..."

„Wir brauchen jemanden, der uns Vergrößerungen machen kann!"

Arndt wedelte mit dem braunen Briefkuvert in der Luft herum.

„Dann lasst uns mal zu Lissi gehen!"

„Lissi?"

„Lissi Blechinger. Phantombild-Lissi."

Um zu Lissi Blechinger zu gelangen, mussten sie hinab ins Untergeschoss steigen, am Eingang zur Kantine vorbei und den langen Gang hinunter gehen, an dessen Ende sie wieder hinauf ins Erdgeschoss stiegen.

Lissi saß in einem hellen Dreißig-Quadratmeter-Atelier mit bodentiefen Fenstern. Von hier aus konnte man auf die nass geregneten Kastanien und das dahinter liegende Gästehaus blicken.

Die junge Frau kehrte ihnen beim Eintreten den Rücken zu und schien keinerlei Anstalten machen zu wollen sich umzudrehen. Konzentriert blickte sie auf einen riesigen Computerbildschirm, auf dem gerade das Konterfei einer alten Frau mit Brille entstand. Arndt sah wie ihre Nase schmaler, dann wieder breiter wurde. Mit schnellen Mausbewegungen schob Lissi verschiedene Brillentypen auf das Gesicht, zog den Mund hin und her, nach oben, nach unten und änderte die Haarfarbe von Weiß zu Hellgrau. Schwer zu sagen was diese alte Frau ausgefressen hatte. Gern hätte Arndt danach gefragt, doch er hielt sich zurück.

„Rekonstruktion einer Toten!"

Konnte Lissi Gedanken lesen? Sie klickte ein paar Mal mit der Maus und auf dem Bildschirm erschien das Foto eines Totenschädels. Grau und rissig. Jetzt hatte sie sich zu ihnen umgedreht. Lissi grinste breit und ließ dabei eine Reihe großer, weißer Zähne aufblitzen.

Sie hatte rot gelocktes Haar, das sie zu einem Pferdeschwanz trug. Ihr Gesicht war voller Sommersprossen. Sie sah sehr jung aus. Melinda musste unwillkürlich an Pippi Langstrumpf denken.

Als Bea hinter sie trat sprang sie auf und strich sich über die eng sitzende Jeanshose als trüge sie ein ungebügeltes Kleid, das sie dringend glätten müsste.

„Tag Lissi! Das sind die neuen Kollegen Holler und Sieben. Sie haben dir ein paar Bilder mitgebracht!"

Das Gesicht der jungen Frau hellte sich auf. Arndt zog die Abzüge aus dem Umschlag und reichte sie ihr. Lissi trug die Bilder zu einem Besprechungstisch am Fenster, breitete sie aus und ließ den Blick darüber schweifen.

„Was interessiert euch?"

Melinda beugte sich nach vorn und tippte nacheinander auf die Abzüge.

„Dieser junge Mann hier. Kopfhörer, kurze Haare, blasses Gesicht. Wir vermuten, dass er auf allen vier Bildern zu finden ist. Hier sieht man ihn am deutlichsten!"

Sie zeigte auf das Foto, das vor der brennenden Sporthalle aufgenommen worden war.

„Auf diesem Foto vermute ich ihn da hinten, im Schatten des Baumes. Und wenn er konsequent war, dann versteckt er sich auch irgendwo zwischen diesen Leuten vor dem Kino!"

Lissi verzog den schmalen Mund zu einer nachdenklichen Miene.

„Ein Brandstifter, der sich am Ort seiner Untat herumtreibt. Ich verstehe."

„Wie lange brauchen sie?"

Lissi machte eine wegwerfenden Handbewegung und hatte sich schon wieder zu ihrem Computer herumgedreht.

„Kommt nach dem Mittagessen wieder."

Sie griff nach den Fotos und der CD und ging zurück an ihren Schreibtisch. Ihre Besucher ließ sie einfach stehen.

Es überstieg Arndts Vorstellungskraft, dass ihnen Lissi schon in zwei Stunden verwertbare Ergebnisse präsentieren konnte. Zwar hatte er wenig Ahnung von dem was sie da an ihrem Computer mit ihrer Spezial-Software tat, doch es erschien ihm kompliziert und extrem zeitaufwendig.

Als sie nach dem Essen ins Atelier zurückkehrten, beschäftigte sich Lissi schon wieder mit dem Konterfei der alten Frau. Auf dem Tisch lag der braune Umschlag. Daneben viele neue, frisch ausgedruckte Abzüge.

„Sie hatten Recht. Er ist auf jedem Bild. Unter dem Baum, hier im Schatten, zwischen den Kindern, und dort an der Treppe. Ich habe sein Gesicht aus jeder Aufnahme so gut es ging herausgearbeitet und dann auf Grundlage des Turnhallen-Bildes eine Gesichtserkennungs-Software darüber laufen lassen. Aus den Ergebnissen habe ich ein digitales Abbild geformt. Drahtmodell, Texturen, Hautmodellierung. Den Kopf ein wenig gedreht, ihn vor einen neutralen Hintergrund gesetzt ..."

Arndt hatte ihr schon nach dem zweiten Satz nicht mehr folgen können. Melinda bemerkte den Stolz in Lissis Blick. Sie ging an den Tisch, sah auf die Bilder und zuckte zusammen. Für einen kurzen Moment musste sie sich an der Tischkante festhalten. Sie nahm eine der Aufnahmen in die Hand und starrte auf das abgebildete Gesicht.

Wie war das möglich? Wie konnte Lissi mit solch dürftigem Bildmaterial, praktisch aus dem Nichts, ein dermaßen detailliertes Portrait erstellen? Das war Zauberei.

Lissi hatte es geschafft den Kopfhörerjungen so darzustellen als posiere er für ein Bewerbungsfoto. Selbst die Struktur der Gesichtshaut war zu erkennen. Unglaublich!

So sah er also aus, ihr Zündler! Er hatte grüne Augen, eine schmale Nase, zögerlichen Bartwuchs, zusammengekniffene Lippen und ein fliehendes Kinn. Alles war so verdammt genau, so detailliert und scharf gezeichnet. Sogar das Logo der Kopfhörermarke war zu erkennen. Melinda schätzte das Alter des Jungen auf neunzehn, höchstens zwanzig Jahre.

Seine Identität zu ermitteln war danach reine Formsache. Nach Besuchen der Grundschule Jacobitor und der Realschule am Röddenberg, wo sie mit mehreren Lehrkräften sprachen, beim Leiter des Supermarktes und dem Kinobesitzer, war die Sache klar. Alle Personen, denen sie das Foto zeigten, erkannten ihren ehemaligen Schüler und Mitarbeiter auf Anhieb wieder.

Das war ihr Mann. Sebastian Winkler, ein junger Kerl, den ausnahmslos alle als unangepasst, jähzornig und als schwierig beschrieben. Die Befragten waren sich darin einig, dass er aus komplizierten Familienverhältnissen stammte. Was auch immer sie damit meinten. Er stritt sich oft mit Mitschülern, verließ ohne ein Wort den Unterricht. Seiner Arbeit blieb er oft unangekündigt fern. Er fühlte sich benachteiligt und ausgegrenzt. Gern nahm er das als Anlass für absurde Verschwörungstheorien, mit denen er Lehrkräfte und Mitschüler nervte.

Herr Jung, der Kinobesitzer, machte viele Andeutungen, redete viel um den heißen Brei herum. Erst als Melinda ihn aufforderte Klartext zu sprechen äußerte er seine Vermutung, dass Sebastian schwul sein könnte. Er war oft mit irgendwelchen Jungs im Kino aufgetaucht. Einmal auch Arm in Arm.

Scheinbar hatte sich kein Schwein dafür interessiert was sich über all die Jahre in Sebastian zusammengebraut hatte, dachte Arndt. Er sah zu seiner Kollegin hinüber und bemerkte ihren sorgenvollen Blick. Sie schien es genauso zu sehen.

Brandprobe (Krimi)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt