Teil 9

46 2 0
                                    

"Und was genau ist jetzt dein Plan?" Lola und Malbo stolperten den Bergpfad nach unten. Lola musste zugeben, dass es anstrengender war als der Weg nach oben. Doch ihrem Freund schien das nicht viel auszumachen. Seine Hufe waren viel Sicherer auf dem unebenen Waldboden, als die Füße des kleinen Mädchens. Oft rutschte sie auf Laub aus oder stolperte über ein Wurzelgeflecht. "Ich darf dir nicht zu viel sagen, sonst lockt das, wie gesagt, noch mehr Monster an", sagte Malbo und stieg über mehrere Steine hinweg, "Es ist wichtig, dass ich dich jetzt erstmal irgendwie ins Camp bringe. Dann wirst du hoffentlich anerkannt." "Anerkannt? Und was genau ist das für ein Camp? Gibt es da andere Kinder?" Der Satyr seufzte. "Camp Halfblood. Ja, da gibt es andere Kinder." Half...blood... Lola überlegte. Sie hatte noch nie von so einem Camp gehört. Natürlich kannte sie schon andere Feriencamps, sie war sogar schonmal in einem No-Maj Camp gewesen - musste dann aber nach Hause gehen, weil ein Junge wegen ihr fast gestorben wäre... Sie schüttelte die Erinnerung ab. "Was bedeutet das alles?"
"Bist du mit der griechischen Mythologie vertraut?" Lola nickte. Sie hatte Bücher darüber gelesen, die ihr Vater auf seinem Schreibtisch hatte. Es waren Geschichten über Götter, Monster und Helden gewesen. Über sogenannte Demigötter, die ein sterbliches, ein göttliches Elternteil besaßen. Doch das waren alles nur Geschichten eines alten Volkes. "Was ist damit?", fragte Lola. Malbo zögerte und schaute sich um. Doch der Wald war still. Leise umspielte Wind die Zweige und irgendwo schrie eine Eule. Aber ansonsten war es still. "Es ist alles wahr", flüsterte er. Lola unterdrückte ein Lachen. Sie wollte ihn fragen, ob er mit ihr scherzte, aber Malbos Miene war ernst und in seinen Augen funkelte eine Spur von Angst und Ehrfurcht. Also blieb sie stumm und wartete auf mehr. Doch der Ziegenjunge blieb stumm und stieg weiter den Mount Greylock hinab. Lola stand noch einige Sekunden da und wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Dann folgte sie ihm einfach weiter.

In ihrem Kopf bildete sich ein Puzzle. Das meiste ergab noch keinen Sinn, aber wenn sie so genauer darüber nachdachte... Warum sollte es nicht wahr sein? Warum sollte neben ihrer magischen Welt nicht auch eine mythologische Welt existieren? Immerhin hielten die No-Maj Magie auch für ein Märchen. Lola dachte an die Chimäre und etwas in ihrem Kopf klingelte. Das war kein magisches Wesen gewesen. Ihre Zaubersprüche hatten es nicht aufhalten können und eigentlich hätten sie funktionieren sollen, auch wenn man bedachte, dass Lola eine Erstklässlerin war. Auch dieser Goldstaub, in den sie sich aufgelöst hatten, war ihr nicht bekannt vorgekommen. Fieberhaft überlegte sie, woher sie den Begriff der Chimäre kannte, aber es wollte ihr nicht einfallen. Also dachte sie an Malbo. Er hatte von sich selbst behauptet, er sei ein Satyr. Und ein Satyr, das wusste Lola ziemlich genau, war noch keinem Magier begegnet. Sie waren Wesen der Mythologie und nicht real. Aber Malbo war real. Entweder war er also der einzige Satyr der Welt, oder etwas an seiner Geschichte musste wahr sein.

Es war Nacht und kalt. Lola verfluchte sich leise, dass sie keine Jacke dabei hatte. Aber woher hätte sie auch wissen sollen, dass sie nach dem Abendessen die nächsten Stunden durch Wälder stapfen würde? Endlich erreichten sie das Tal und eine Kleinstadt tat sich vor ihnen auf. "Ich glaube, wir sind in Cheshire", meinte Lola und suchte mit ihren Augen nach einem Ortsschild. Aber sie fand keines. Die Straßen waren klein und schmal und von Straßenlaternen gesäumt. Anscheinend hatte der Ort nicht mehr als ein paar tausend Einwohner, denn die Häuser beanspruchten für sich ein kleines Grundstück und waren nicht dicht aneinander gedrängt. Generell wirkte alles gepflegt und einladend, auch brannte in einigen Fenstern noch Licht und irgendwo bellte ein Hund. "Wir sollten hier übernachten", meinte Malbo und blickte sich um. "Hier? Aber was ist mit den Bewohnern? Die dürfen dich doch nicht so sehen", antwortete Lola und musterte den Satyrn, der mit seinen Hufen ungeduldig über den Asphalt scharrte. Dieser lachte kurz: "Der Nebel wird das schon für mich richten. Sterbliche sehen nur das, was sie auch sehen wollen. Und zur Not", er deutete mit einem Kopfnicken auf Lolas Tasche, "Kannst du doch bestimmt etwas zaubern, oder?" "Ich kann den Blick von etwas abwenden lassen", überlegte Lola, "Aber das nur theoretisch. Wir haben Avocatio erst gestern vorgestellt bekommen." Malbo grinste schief. Es war seine Art des "Es wird schon alles gut gehen" und gab dem Mädchen einen Schub Selbstvertrauen. Das war jetzt auch nötig, denn als sie die Straße entlang wanderten, kamen sie an ein großes Gebäude, mit einer weißen Holzfassade. Vor dem sauber gepflegten Rasen stand ein großes, rotes Holzschild, auf dem in gelben und weißen Buchstaben "Harbour House Inn" stand, darunter war ein kleines "B&B" in geschwungener Schrift. "Perfekt", murmelte Malbo und ging auf die Eingangstür zu. Lola hielt ihn zurück: "Warte mal! Hast du überhaupt Geld dabei?" Anstatt einer Antwort, nahm Malbo seinen grünen Rucksack von den Schultern und zog ein großes Bündel mit Scheinen heraus. Lola verdrehte einmal kurz die Augen, atmete tief durch und betrat mit ihrem Freund das Gebäude.

Sie hätte gedacht, dass die Frau vom Empfang vielleicht schreien und die Polizei rufen würde, wenn sie Malbo erblickte. Oder dass sie zumindest nachfrüge, was denn zwei Kinder in einer kalten Nacht in ihrem Hotel suchten. Aber nein. Die alte Dame, in ihren hellgelben Gewändern, war sehr freundlich, lugte nicht einmal über ihren Brillenrand, geschweige denn den großen Tresen, hervor und bot den Kindern ein hübsches Zimmer mit zwei Betten im zweiten Stock. Auch wenn die Inneneinrichtung ziemlich alt aussah - eine blaue Blümchentapete, die schon einmal bessere Zeiten gesehen hatte und hellgrauer Teppichboden - und es auch nach nassem Hund, gemischt mit etwas wie Vanille, roch, so waren wenigstens die Betten sehr bequem und die Kinder ließen sich erschöpft und angezogen, wie sie waren, in den Kissen nieder. Während sie so dalagen und auf die Zimmerdecke aus weißem Holz starrten, spukten viele Fragen in Lolas Kopf herum. "Was machen wir morgen?", schien das Harmloseste zu sein. "Morgen", murmelte Malbo müde, "schauen wir, wie wir am Besten nach New York kommen." Seine Stimme wurde leiser und langsamer. "New York?", fragte Lola. 

Stille.

Ein leises Schnarchen ertönte. 

Anscheinend war der Satyr eingeschlafen. Lola konnte es ihm nicht verübeln. Der Tag war unfassbar anstrengend gewesen und es tat gut, seine Glieder auszustrecken. Langsam drifteten ihre Gedanken ab und sie begann zu träumen.

Das Mädchen saß am Strand einer Landzunge. Hinter ihr hörte sie Stimmen und ein knisterndes Feuer. Vor ihr lag der Ozean. Er schimmerte grün-bläulich in der untergehenden Sonne und lila Wolken zogen über den dunkler werdenden Himmel. Sie spürte, dass neben ihr jemand saß und ihre Hand hielt. Aber sie war nicht in der Lage, ihr Gesicht zu wenden. Schweigend starrte sie auf die Wellen. Sie schienen mit ihr zu sprechen. Aber das konnte genauso gut auch Einbildung sein. Plötzlich sah sie über den weißen Sand eine Gestalt wandern. Eine schlanke Figur. Eine junge Frau. Sie trug ein weißes Gewand, das in der Abendsonne funkelte. In ihrer Hand hielt sie einen goldenen Kelch, ebenso goldene Locken hatte sie zu einer kunstvollen Frisur hochgesteckt. Sie hatte den Blick auf den Ozean gerichtet, sodass Lola ihr Gesicht nicht sehen konnte. Aber das musste sie auch gar nicht.

"Mutter!"

Das Gesicht der Frau wandte sich ihr zu und sie lächelte.

Dann erwachte Lola und blickte in die grünen Augen ihres Freundes.

Die Kinder der Aphrodite • HP × PJ FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt