"Alles okay, Scarlett?" Ihr Kollege Andrew sah sie besorgt an. Sie rieb sich über die Augen. "Klar, bin nur ein bisschen müde."
Andrew schien ihr nicht zu glauben, sagte aber nichts. Weder Scarlett noch irgendjemand anderes im Wildpark schaffte es, dem alten Ranger etwas zu verschweigen.
"Es geht mir gut. Ehrlich!", meinte sie mit Nachdruck. Sie hievte einen der Futtersäcke von der Ladefläche des Pick-Ups und holte ihr Taschenmesser hervor.
Ein sauberer Schnitt über die Oberfläche und schon konnte die Futterkrippe zwischen den Tannen gefüllt werden. Gedankenverloren schaute Scarlett den Körnern zu, wie sie in den hölzernen Behälter rieselten.
Sie konnte nicht glauben, dass sie sich immer noch Sorgen machte. Ihrer Grandma ging es doch gut. Ihre Eltern wären stolz auf sie gewesen. Zumindest war es das, was sie hoffte.
Scarlett und Andrew fuhren durch den ganzen Park und füllten die Futterstellen. Auch wenn es an diesem Tag nicht danach aussah, es konnte jeden Tag zu schneien beginnen und dann brauchten die Tiere im Park ihr Futter.
Scarlett liebte ihre Arbeit wirklich. Sie liebte den Park, sie liebte die Tiere und sie liebte die Natur.
Ihre Gedanken wurden von einem lauten Heulen unterbrochen. "Die Wölfe.", flüsterte sie lächelnd. Sie hatte diese majestätischen Tiere schon immer faszinierend gefunden. "Können wir noch schnell einen Umweg machen?", fragte sie Andrew mit süßer Stimme.
Der alte Mann seufzte. "Na gut, aber um drei Uhr müssen wir zurück sein. Heute sind wir für die Führung zuständig." Scarlett nickte grinsend und trat auf das Gaspedal.
Die Wölfe hielten sich am liebsten zwischen den Felsen neben dem großen Fluss auf. Scarlett hielt auf einem oberen Weg an und stieg aus. Etwa zweihundert Meter von ihnen entfernt ließen sich die Tiere die Sonne auf das Fell scheinen und genossen die Ruhe.
Sie hatten sich nicht durch das Motorengeräusch stören lassen. Schließlich waren die meisten von ihnen in diesem Wildpark geboren und aufgewachsen. Manche wurden sogar von Pflegern aufgezogen, wie der kleine Milo. Scarlett hatte ihn mit der Flasche gefüttert, weil seine Mutter kurz nach der Geburt starb und ihn sonst keine Wölfin angenommen hatte.
Milo hob bereits den Kopf, als Scarlett die ersten Schritte machte und rannte wie ein Hund zu seinem Herrchen auf sie zu. Lachend kraulte sie ihren pelzigen Freund. Andrew lehnte am Pick-Up und beobachtete die beiden zufrieden.
Einige Sonnenstrahlen bahnten sich ihren Weg durch das Blätterdach, unter sie standen. Sie fielen auf Milos braun-schwarzes Fell und ließen es kurz sogar rot aufschimmern. Das war bei allen Wölfen im Park der Fall. Sie gehörten zu einer seltenen Gattung - den Blutwölfen.
Scarlett hatte diesen Namen noch nie gemocht. Manche Leute hielten Wölfe auch ohne den Namen schon für ach so gemeine und gefährliche Tiere. Dabei hatten sie genauso viel Angst vor vielen Menschen wie andersrum.
Nachdenklich fuhr Scarlett Milo über den Kopf. Sie konnte sich ein Leben ohne den jungen Wolf gar nicht mehr vorstellen.
Viel zu bald erinnerte Andrew sie daran, dass sie zurück mussten. Scarlett vergrub ihr Gesicht in Milos Fell und beide verabschiedeten sich so auf ihre eigene schweigende Weise.
Dann rannte Milo zu seinem Rudel zurück und Scarlett stieg in den Pick-Up. Sie schaute ein letztes Mal zu den Wölfen, von denen inzwischen einige das Fahrzeug, Andrew und sie mit gelangweilten Ausdruck anstarrten. Sie musste grinsen und fuhr los.
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Rotkäppchen (Märchenadaption)
AventuraDie 19-jährige Scarlett hat nach der Schule ihren absoluten Traumjob gefunden. Als Rangerin im Old Oak Wildpark ist sie in der Natur und kann die Tiere dort bewundern und sich um sie kümmern. Besonders ein Wolfsrudel hat es ihr angetan. Alles schein...