Kapitel 6

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Leviathan war stetsein Mann gewesen, der sich würdevoll im Hintergrund hielt, bis seinEingreifen gefragt wurde. Umso mehr erstaunte es Belial, wieengagiert er nun die Neuorganisierung der höllischen Heerscharenbefehligte und überwachte. Die beiden Dämonen kannten sich seitihrer Jugend und es war seit ihrem ersten Treffen kein Tag vergangen,an dem Belial nicht mit einer gewissen Zuneigung an Leviathan gedachthatte.

Es bereitete ihmFreude, seinem Freund zuzusehen, wie er über eine Statistik gebeugtgrübelte. Er war ein hochrangiger Engel mit großem Ansehen gewesen,bevor er aus dem Himmel verstoßen worden war. Als einzigergefallener Engel hatte er seine prächtigen Flügel behalten dürfen.Den Grund dafür hatte Belial ihm niemals verraten, obwohl er ihnkannte.

„Azazel bereitetmir Sorgen", erhob Leviathan die Stimme, den Blick noch immer aufseine Unterlagen gerichtet. „Es scheint ihn mehr zu freuen als zubeunruhigen, dass Lucifer sich in der Gewalt des Himmels befindet."

„Ich habe keineAhnung, warum Lucifer ihm überhaupt noch Vertrauen schenkt",bekräftigte Belial und bewunderte die Bewegungen von Leviathansmuskulösen Armen, als er sich abstützte. „Azazel war selbst zuseinen Zeiten als Engel schon stets auf seinen eigenen Vorteilbedacht. Weil er Lucifer in den letzten Jahrzehnten so nahe stand,erhofft er sich wohl, die Herrschaft über die Hölle übernehmen zukönnen."

„Das werde ichnicht zulassen. Lucifer mochte als Herrscher seine Fehler gehabthaben, aber immerhin hat er nicht in seiner eigenen kleinenFantasiewelt gelebt." Leviathan richtete sich auf und streckteseine Flügel, soweit es in dem engen Zelt möglich war. Unter seinenAugen zeichneten sich dunkle Ringe der Erschöpfung ab.

„Du sprichst vonihm, als wäre er tot, Levi."

„Wir müssen dieseMöglichkeit durchaus in Betracht ziehen", sagte Leviathan ruhig,doch die Art, wie er die Arme vor der Brust verschränkte und denKopf dabei zur Seite neigte, verriet Belial, dass auch sein Freundsich Sorgen machte.

„Er kommt zurück."Nichts anderes war Belial zu glauben bereit. Er liebte Lucifer,seinen besten Freund und Beschützer, beinahe wie einen Bruder.

„Aber vermutlichnicht schnell genug, um die Kontrolle über die Hölle zu behalten.Seine Kapitulation ist eine Woche her und seitdem sind die Dämonenohne starke Hand, die sie führt. Jemand wird in Lucifers Fußstapfentreten müssen, besser heute als Morgen."

„Bevor es Azazeltut", vervollständigte Belial den Gedanken, den Leviathan nichtaussprach.

Der geflügelteDämon nickte nur, wandte sich von Belial ab und starrte in die Nachthinaus. Zu gerne hätte der Dämon gefragt, was in Leviathans Kopfvor sich ging, doch er wollte dessen Überlegungen nicht durchNachfragen stören.

„Du solltest dichvon Azazel fernhalten", sagte Leviathan unvermittelt. „Ich habeein schlechtes Gefühl, was ihn angeht."


„Du konntestentkommen!", platzte Theliel heraus und sprang ihm entgegen wie einHündchen, das sich über die Rückkehr seines Herrschens freute.Seine Flügel wippten vergnügt auf und ab. Wären die Umständenicht so merkwürdig, hätte Lucifer sich darüber amüsiert.

„War nichtschwierig", entgegnete der Höllenkönig leichtfertig und setzesein übliches, halb spöttisches, halb schelmisches Grinsen auf, umdavon abzulenken, wie wütend er immer noch war. Nicht auf Thelielselbst, sondern auf Gott, Lilith und sich selbst.

„Ich muss mit dirreden", sagte Theliel ernsthaft, doch Lucifer schnitt ihm das Wortab.

„Ich bin auf derFlucht und habe dementsprechend keine Zeit zum Plaudern. Wenn du michalso entschuldigen würdest."

LUCIFER - MorningstarWo Geschichten leben. Entdecke jetzt