| Sechs Buchstaben

282 38 55
                                    

Ich finde, du bist mir etwas schuldig."

Der leichte Wind, der an diesem Abend durch den Park wehte, ließ die Blätter der Bäume leise rascheln. Er genoss den kühlen Wind auf seiner Haut und blickte auf seine Hand hinab, die ihre Hand noch immer festhielt.

Seine Fingerspitzen strichen sanft über ihren Handrücken und er betrachtete für einen Augenblick lang ihre miteinander verschlungenen Hände. Ihre Hand wirkte in seiner großen Hand merkwürdig klein und die rote Farbe, in der ihre Fingernägel glänzten, stand in einem Kontrast zu ihrer blassen Haut.

„Ich bin dir etwas schuldig?", hakte sie nach und er konnte das Lächeln, das während des Sprechens auf ihren Lippen lag, aus ihren Worten heraushören.

„Ja", sagte er und seine Mundwinkel zuckten dabei in die Höhe.

„Und woran denkst du?"

„Du könntest mir deinen Namen verraten." Er lächelte erneut, ließ seinen Blick zu ihrem Gesicht wandern und betrachtete für einen Augenblick das Schmunzeln, das auf ihren Lippen lag.

„Hm", machte sie und dann war es still. Sie ließ sich mit ihrer Antwort Zeit und während er wartete, da dachte er darüber nach, wie sie wohl hieß. Eva? Hannah?

Wie viele Buchstaben hatte ihr Name?

Drei Buchstaben?

Vier Buchstaben?

Fünf Buchstaben?

„Elaine."

Sechs Buchstaben.

„Elaine." Ihr Name kam leise über seine Lippen und um Elaines Mund legte sich augenblicklich ein kleines Lächeln. „Dein Name gefällt mir", sagte er und beinahe im selben Moment, drückte sie seine Hand sanft. „Und wie ist dein Name?"

„Will."

„Dein Name gefällt mir."

Will lachte, er betrachtete ihr Gesicht von der Seite und als er hörte, dass auch sie lachte, da legte sich auf seine Lippen ein Schmunzeln. Elaine schien seinen Blick auf ihrer Haut zu spüren, denn mit einem Mal drehte sie ihren Kopf in seine Richtung und er konnte das erste Mal ihr ganzes Gesicht betrachten.

Das Mondlicht fiel nur schwach auf ihre blasse Haut, doch er erkannte dennoch die grünen Augen, die unter ihren dichten Wimpern aufblitzten.

Und für einen kurzen Augenblick lang, hielt er die Luft an. Nie zuvor hatte er die Augen eines Blinden gesehen. Er hatte immer gedacht, dass die Augen eines Nichtsehenden anders aussehen würden als die eines Sehenden, doch Elaines grüne Augen wiesen keinen Unterschied auf und in diesem Moment konnte er nichts anderes tun, als sie einfach nur still zu betrachten.

Ihre Lider waren halb geschlossen, doch immer wieder sah er ihre grünen Augen zwischen ihren Wimpern hindurch funkeln.

„Du hast schöne grüne Augen."

Seine Worte waren leise und als sie an Elaines Ohren drangen, verzogen sich ihre roten Lippen, zu einem sanften Lächeln und Will spürte erneut einen sanften Druck an seiner Hand, die sie festhielt.

„Danke", hauchte sie und als ihre Blicke sich trafen, da fühlte es sich für Will so an, als würde sie ihn ansehen und seinen Blick erwidern, doch er wusste, dass sie seine Augen nicht sehen konnte und so legte sich ein trauriges Lächeln auf seine Lippen.

„Welche Farbe haben deine Augen?"

„Blau", antwortete er und Elaine schwieg für einen Moment lang.

„Ich mag blaue Augen. Mein Vater hat auch blaue Augen, die schönsten, die ich je gesehen habe, aber ich erinnere mich kaum noch daran, wie sie ausgesehen haben."

Ihre Lider schlossen sich und nun war es Will, der ihre Hand sanft drückte.

„Vergisst du, wie Farben aussehen?"

Sie nickte leicht. „Ja, mit der Zeit vergesse ich sehr viele Dinge. Ich kann mich nicht mehr an alle Farben oder die Gesichter meiner Freunde oder Verwandten erinnern", sagte sie und Will schluckte.

Stille legte sich über die beiden. Will wusste nicht, was er auf ihre Worte erwidern sollte, doch seine nächsten Worte, kamen unbedacht über seine Lippen und er war sich nicht sicher, wie sie reagieren würde.

„Wie fühlt es sich an, blind zu sein?"

Er hielt die Luft an und fürchtete, sie würde seine Hand loslassen und gehen, doch Elaine blieb und Will fühlte sich so erleichtert, wie noch nie zuvor.

„Es ist ein schreckliches Gefühl. Ich habe mich mittlerweile daran gewöhnt und ich kann beinahe genauso leben, wie ein Sehender, aber es ist dennoch ein schreckliches Gefühl. Die Leute beobachten dich, sie sprechen über dich und vergessen dabei, dass du blind und nicht taub bist."

Will schüttelte seinen Kopf. „Ich kann nicht verstehen, warum manche Menschen so grausam sind." Ein leises Seufzen kam über seine Lippen und abermals verspürte er das längst vertraute Gefühl an seiner Hand.

„Ich habe mich früher sehr darüber geärgert, aber mein Vater sagte immer, dass es sinnlos wäre, sich über Menschen zu ärgern. Wir können nichts daran ändern und verschwenden nur Zeit, die wir für wichtigere Dinge nutzen könnten."

Und mit diesen Worten wurde Will bewusst, dass da jemand ganz besonderes neben ihm saß.

Elaine war völlig anders als die Menschen, denen er begegnet war. Nicht weil sie nichts sehen konnte, sondern, weil sie ihr Leben lebte, auch wenn andere Menschen ihr das Gefühl gaben, dass sie nicht so war, wie alle anderen Menschen.

• • •

Hallo ihr Lieben, an dieser Stelle möchte ich noch kurz anmerken, dass ich mich mit dem Thema Blindheit nicht auskenne. Um über einen blinden Menschen schreiben zu können, habe ich natürlich recherchiert, aber dennoch kann es möglich sein, dass mir ein Fehler passiert. Solltet ihr euch besser auskennen als ich, dann macht mich bitte gerne darauf aufmerksam, damit diese Geschichte so realitätsnah wie möglich sein kann.

[30. April 2018]

Save MeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt