| Sieben Seiten

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Elaines Fingerspitzen strichen leicht über die Seiten des Buches, das auf ihrem Schoß lag. Sie spürte die kleinen Erhebungen unter ihren Fingerkuppen und bewegte ihre Lippen lautlos, während sie die einzelnen Worte las, die in Blindenschrift auf das raue Papier gedruckt waren.

Wills Blick ruhte stumm auf Elaine, er beobachtete ihre Finger, die über die Seite strichen und ihre Lippen, über die immer wieder lautlose Worte kamen. Zögerlich rutschte er näher an die junge Frau heran, der süße Duft ihres Parfüms stieg ihm in die Nase und er sah auf das Buch in ihren Händen hinab.

Elaine spürte Wills warmen Atem auf ihrer Wange, die Finger, die soeben noch über das raue Papier gewandert waren, stoppten und sie drehte ihren Kopf ein wenig zur Seite, damit sie in seine Richtung sehen konnte.

Wills Augen wanderten von dem Blindenbuch zu Elaines Gesicht und er erwischte sich dabei, wie er für einen Moment lang in Elaines grüne Augen sah und sich dabei wünschte, dass sie ihn ansehen könnte.

Doch er wusste, dass das nicht möglich war und mit einem lautlosen Seufzen, wandte er den Blick ab und musterte erneut das Buch auf Elaines Schoß.

„Ist es schwer, ein Blindenbuch zu lesen?", fragte er.

„Als ich das erste Mal ein Blindenbuch gelesen habe, war es wirklich schwer. Ich konnte mir nicht merken, welche und wie viele Punkte für welchen Buchstaben stehen, doch mittlerweile fällt es mir schon viel leichter. Ich habe lange geübt, die Blindenschrift lesen zu können, denn ohne sie kann ich weder ein Buch lesen, noch etwas Aufschreiben und das ist eigentlich sehr wichtig", sagte sie und Will nickte langsam.

„Kann ich es auch mal versuchen?"

Seine Finger schwebten über dem Buch und als Elaine nickte, da strichen seine Fingerspitzen über das raue Papier, doch Will wusste nicht so recht, wie er auch nur einen Buchstaben erkennen sollte. Die kleinen Erhebungen unter seinen Fingerkuppen fühlten sich alle genau gleich an, er spürte keinen Unterschied.

Elaine griff nach Wills Finger, den sie an die obere Ecke der Seite zog. Er schloss seine Augen, um sich besser konzentrieren zu können und dann schob Elaine seinen Finger ganz langsam über die kleinen Erhebungen.

„Es war der neunte Juni, die Vögel zwitscherten und der nahegelegene Bach rauschte leise."

Elaines Finger strich mit einem kleinen Abstand zu Wills Finger über die Seite. Laut las sie die Worte vor, die in Blindenschrift auf das Papier gedruckt worden waren und Will hielt den Atem an.

Er spürte unzählige Erhebungen unter seinen Fingerspitzen und lauschte Elaines sanfter Stimme gespannt. Er verfolgte die Geschichte, die sie erzählte und schon bald rutschte sein Finger von der Buchseite.

Er legte sich ins Gras, hielt die Augen noch immer geschlossen und während er weiterhin Elaines Stimme lauschte, da legte sich ein Lächeln auf seine Lippen. Er verschränkte die Arme unter seinem Kopf und bildete sich ein, entferntes Vogelgezwitscher und das Rauschen eines Baches zu hören.

Elaines Stimme verstummte nur für einen kurzen Augenblick lang. Wills warmer Atem verschwand von ihrer Wange und sie lächelte, als sie das leise Rascheln der Grashalme hörte.

Dass Will neben ihr in der Wiese lag, war ihr bewusst und als er seine Finger um ihr Handgelenk schloss, da nahm ihr Finger die Bewegung über dem Papier wieder auf und ihre Stimme drang erneut an Wills Ohren.

Elaines Finger wanderte über etliche kleine Erhebungen, sie blätterte erst eine Seite um, dann zwei.

Drei.

Vier.

Fünf.

Sechs.

Sieben.

Und als die letzten Worte der siebten Seite über ihre Lippen kamen, da schlug die Kirchturmuhr Mitternacht.

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[03. Mai 2018]

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