Düstere Tage

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JUNI 1977

"Sev? Kommst du mit an den See?" Lilys elfengleiche Stimme wehte zu mir hinüber und riss mich sanft aus der eingehenden Betrachtung ihrer wundervollen Augen. "Mmh? Eh, nein, tut mir leid. Ich muss noch einen Aufsatz für Flitwick fertig machen." Eigentlich schon doof, dass wir sogar nach unseren ZAG-Prüfungen noch Aufsätze schreiben müssen. "Ich kann aber dann nachkommen, wenn du möchtest." Sie nickte begeistert und ihr langer, roter Zopf wippte dabei auf und ab. "Das wäre wirklich schön, Sev! Ich warte auf dich, du siehst mich dann schon, ja?" Jetzt war es an mir zu nicken, aber sie hatte es wahrscheinlich nicht mehr gesehen, denn sie hatte mir nur noch einen Blick geschenkt und war mit schnellen Schritten aus der Halle verschwunden. Ich seufzte. Ach Lily.... Wenn sie nicht wäre, würde ich wahrscheinlich zugrunde gehen an all der Düsternis, die sich in meinem Leben ausgebreitet hatte. Nicht nur durch die Bedrohung durch Du-Weißt-Schon-Wer, von der wir hier in Hogwarts nicht viel mitbekamen. Das Schlimmste war das Gerede der anderen Slytherins über ihn. Sie beteuerten alle, im Geheimen natürlich, immer wieder ihre tiefe treue zu dieser Person und schworen sich, ihm zu dienen, wenn er es verlangte. Und obwohl Ana und ich uns aus dieser Sache so weit es ging heraus hielten, merkte man doch, dass es auf uns lastete. Und das Gerede und die Blicke der anderen Häuser machten es nicht besser. "Ach, die Slytherins sind doch alle das gleiche bösartige Gesindel" sagten sie und gingen einfach. Der Ruf unseres Hauses, auf das wir immer sehr stolz gewesen waren, haftete an uns wie ein besonders hartnäckiger Klebefluch. Und wenn Lily nicht wäre, würde ich sicher zu denen gehören.

Langsam ließ ich mich am Baumstamm hinab rutschen. Wie gut, dass ich das Buch mitgenommen hatte. Ich hatte für meinen Aufsatz länger gebraucht als erwartet und Lily hatte sich in der Zwischenzeit zu ein paar Freundinnen gesetzt, denen ich ganz sicher nicht zu nahe kommen möchte. Also der Baum. Der Baum, an dem ich bei schönem Wetter oft saß, und laß. Ich hatte das Buch mit genommen, das meine Mutter mir zum dreizehnten Geburtstag geschenkt hatte, ein vom vielen Lesen abgegriffener Wälzer über die Anfänger der Zaubertrankbrauerei. Es gehörte zu meinen Lieblingsbüchern und außerdem hatte ich es von Mum. Ich versank schnell in den spannenden Erzählungen. Aber nicht lange. Dann wurde meine Ruhe wie so oft durch ein überall bekannte Stimme gestört: James Potter. "Na wen haben wir denn da... Schnieffelus!" Ich sprang auf. Dieser Idiot sollte mir jetzt nicht den Tag verderben. "Komm, komm, nicht gleich so aggressiv werden!" Sirius Black. In einer unwillkürlichen, flüssigen Bewegung holte ich meinen Zauberstab aus der Tasche. Aber auch James' Reaktionen waren in den Jahren verfeinert und perfektioniert worden. Und bevor ich auch nur ein einziges Wort sagen konnte, lag mein Zauberstab auf dem Boden, außer Reichweite. Pettigrew und Black johlten laut, ob dieses gelungenen Angriffes. Doch James hatte noch nicht genug. Ich hatte noch keine zwei Schritte in Richtung meines Stabes gemacht, da hing ich kopfüber in der Luft. Inzwischen hatte sich eine ganze Menge an schaulustigen Hogwartsschülern eingefunden, die mit lauten Rufen ihre Zustimmung kundtaten. James grinste mir ins Gesicht. "Na, wer von euch will zugucken, wie ich Sniffelus die Unterhose ausziehe?" Nur mit Mühe konnte ich verhindern, dass meine Gesichtszüge entgleisten. Das würde er nicht wirklich tun. Ich wusste genau, er würde. Wenn es seinem Image diente. Aber ich würde das zu verhindern wissen, ich wusste nur noch nicht, wie. Und dann kam Lily. "James Potter! Du lässt ihn sofort runter!" James drehte sich um und grinste Lily frech an. Und mit einem Schnippen seines Zauberstabs sagte er: "Für dich würde ich alles tun, Evans." und ließ mich unsanft auf den Boden krachen. Lily funkelte Potter an und lief dann zu mir. "Sev, alles in Ordnung?" Ich nickte. Dann richtete ich mich auf, wobei ich ihre helfende Hand tunlichst ignorierte. Fehlte noch, dass das Mädchen, das mich gerade vor Potter gerettet hatte, mir noch beim Aufstehen half. Wie sieht das denn aus. Ich wäre durchaus alleine mit diesem Großkotz klargekommen, es wäre ja nicht das erste mal, dass er mich beleidigte. Und bis jetzt bin ich auch immer ohne Lily klargekommen. "Lily, was sollte dass denn jetzt?", fuhr ich sie an. Eine plötzliche Wut war in mir hoch gekocht. Eine Wut auf mich selber, darauf, dass ich genau wusste, dass ich Potter nicht gewachsen gewesen wäre, es mir aber nicht eingestehen wollte. Lily sah mich nur mit schief gelegtem Kopf an. "Dir helfen, was sonst. Kommst du jetzt?" Sie hielt mir ihre Hand hin. Es war verlockend, die ergreifen und mit Lily fortzugehen, weg von den Menschen, für die ich nur ein Spielzeug war. Aber ich konnte nicht. "Ich brauche aber keine Hilfe von einem Schlammblut!" Das war der Moment, in dem meine Wut genauso schnell verrauchte, wie sie gekommen war. Ich schlug die Hand vor den Mund und sah Lily mit weit aufgerissenen Augen an. Hatte ich das gerade wirklich gesagt? Sie schien sich für einen Moment dieselbe Frage zu stellen. Dann füllten sich ihre unglaublichen Augen mit Tränen, ihre Hand fiel schlaff herunter und sie drehte sich um und rannte davon. Ein einziger Schluchzer drang durch die Totenstille auf dem Gelände an mein Ohr. Ein Geräusch, das sich in mein Gehirn einbrannte. Sie schluchzte wegen mir. Wegen mir. Ich rannte los. "Lily! Lily warte!" Sie blieb nicht stehen. Aber als sie über ihre eigenen Füße stolperte, hatte ich die Chance, sie einzuholen und am Arm zu packen. "Lily!" Ich keuchte von dem kurzen Weg vom Baum bis hier hoch. Meine Ausdauer war noch nie die beste gewesen. "Lily, hör zu. Es tut mir so leid. Ich wollte das nicht!" Doch sie hörte mir gar nicht zu. Sie schüttelte meinen Arm ab und schrie: "Und ich dachte, du wärst anders als die anderen!", dann war sie wieder davon gerannt. Diesmal blieb ich einfach nur stehen und starrte lange auf den Punkt, an dem sie verschwunden war. Ich hatte Lily verloren, meinen einzigen Lichtblick auf dieser Welt.

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Dieses folgenschwere, nicht besonders lange Kapitel widme ich der wundervollen Sahneeis, weil sie einfach sie ist und weil sie immer da ist.

Severus Snape - Schurke oder HeiligerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt