Die Tür schwang auf und gab den Blick auf eine schwarze Welt frei. Der Himmel, teilweise von dicken Wolken behangen, ähnelte der Menge unter ihm, die sich im dunklen Innenhof der Burg versammelt hatte. Wohin das Auge reichte, erblickte man schwarze Mäntel, deren Besitzer, seien sie nun Vampire oder Menschen, die Kapuzen tief ins Gesicht gezogen hatten. Kein einziger weißer Fleck war im Innenhof auszumachen und nur die silbernen Ornamente der Gewänder, die wie das Licht der Sterne funkelten, brachten etwas Hoffnung mit sich.
Die Menge schwieg. Niemand wagte es, die Stille mit einem Flüstern zu durchbrechen, doch die Augen unter den Kapuzen schienen Bände zu sprechen. Still beobachteten und analysierten sie jede noch so winzige Bewegung von mir wie Raubtiere, die einer Beute auflauerten.
Langsam setze ich einen Fuß vor den anderen und ging auf das in der Mitte aufgebaute Schafott zu, das wie eine Insel aus braunen Holz im Meer von Schwarz herausstach. Wie automatisch gesteuert stieg ich die drei Stufen auf das mittelalterliche Holzgerüst hinauf und wandte meinen Blick wieder dem Eingang zu. Die Menge um mich herum verschwamm und wurde zu nichts mehr als schwarzen Wellen, die gierig an meiner Insel aus totem Holz leckten. Das Einzige, was kühl und tödlich klar zu meinem Verstand durchdrang, war das schwere Heft der blutrünstigen Klinge in meiner Hand.
Auf einmal wurde die schwarze Flut durchbrochen. Eine kleine Gasse zum Schafott bildete sich und erlaubte den Blick auf eine weiße Gestalt. Sie trug keinen Umhang wie jeder andere hier, sondern ein einfaches weißes Leinengewand aus grobem Stoff. Ein winziger roter Blutstropfen war direkt über dem Herzen des Vampires in die Kleidung eingearbeitet. Er wurde nur von zwei Männern in schwarzer Kampfmontur geführt und doch machte er keinerlei Versuche zu fliehen. Schweigend stellte er sich seinem Urteil.
Die Gesichter im dunklen Meer schienen hämisch zu grinsen, als er immer weiter auf seine Todesstätte zu trottete wie ein williges Opferlamm. Ich wagte es nicht, den Blick von der Prozedur abzuwenden. Der Mann sah nicht wie ein Verbrecher aus. Im Gegenteil in seinem weißen Gewand wirkte er nicht einmal mehr wie ein Geschäftsmann, der immer versuchte seinen Gegenüber über den Tisch zu ziehen. Er wirkte eher wie ein Mann, ein Vater oder Bruder, der für die Geliebten den hohen Preis bereitwillig in Kauf nahm. Er sollte der Mann sein, den ich geschnappt hatte? Der einen Mordversuch auf Damian und mich gestartet und der Drogen genommen hatte bis er sich nicht einmal mehr wirklich bewegen konnte und von einem einfachen Menschen gefangen worden war? War dies der Mann, der mit so viel Hass und Verachtung über Damian hergezogen war? Von seinem Aussehen her war er es eindeutig, doch wieso fühlte ich nun tief in meinem Inneren, dass dies nicht alles sein konnte? Was war sein Motiv gewesen für einen so irrsinnigen Plan, der niemals klappen konnte? Etwa nur Geld? Fanatismus? Doch wieso versuchte er sich jetzt nicht zu wehren? Sich mit letzter Kraft auf mich zu stürzen?
Er zögerte leicht, als er die erste Treppenstufe zu mir, seinem Henker, erklomm. In seinen Augen lag tiefe Traurigkeit, doch er fing sich wieder, reckte den Kopf stolz empor, so als wollte er der gesamten Welt die Stirn bieten und ging tapfer weiter.
Vor mir angekommen hielt er inne. Seine Augen blickten klar und ohne den Schleier eines Rauschgiftes tief in die meinen. Ich fühlte mich, als könnte ich dem Mann in diesem Moment durch bloßen Augenkontakt tief in die Seele blicken, doch da schien nicht mehr Dunkelheit zu sein, als die, die in jedem der in der Nacht lebte und herrschte.
Dann verbeugte er sich vor mir mit geradem Rücken, so grazil und würdevoll wie ein Edelmann mit dem Herzen eines Löwens. Mit einem Mal schien der Bann, der mich beim Blick in die Augen des Vampirs ergriffen hatte zu verschwinden.
Als das Zeichen der Anerkennung formvollendet ausgeführt worden war, traten wir gemeinsam vor. Niemand von uns beiden beachtete die schwarze Menge. Sie war nicht mehr als ein Rauschen in weiter Ferne. Das eiskalte Schwert in meiner Hand war das Einzige, was mich von dem Mann vor mir trennte. Die kalte Klinge schien vor Vorfreude leicht zu vibrieren, als der Mann sich hinabbeugte, auf die Knie ging und würdevoll sein Haupt in die Todesstätte aus dunklem Holz legte.
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Gemahlin der Nacht - 2. Band der Tagwandler Reihe
VampiroEndlich hat es Kate alias Polarfuchs geschafft. Die Missverständnisse zwischen ihr und dem Vampiroberhaupt Damianos sind geklärt, er hat ihr seine Liebe gestanden und die letzte Phase ihrer Ausbildung kann nun beginnen. Gemeinsam mit ihren persönlic...