Auf dem Weg in die Hölle

59 1 1
                                    

Mello starb.
Er wusste es, als Hitze durch seinen Körper flammte, seinen Atem verbrannte und alles innerhalb des LKW-Cockpits zu einem Klumpen aus Eindrücken verschmolz.

Er sah eine Kirche durch die Windschutzscheibe auf sich zurasen,
spürte die Kollision mit dem Gemäuer bis ins Knochenmark,
hörte Steine auf die Karosserie scheppern,
roch Benzin von der Ladefläche hereinströmen.
Und schmeckte Blut.

Doch Mello reagierte längst nicht mehr, hing bloß wie eine leere Hülle auf dem Lenkrad, während seine Lider sanken und die Welt um ihn herum schwärzten.

Erst schwanden seine Sinne, dann sein Puls.

Bubumm.

Herzschläge verhallten wie Paukenschläge nach einer Parade.

Bubumm.

Mello war so weit gegangen, um den letzten Beweis zu sammeln - einen Namen, der benötigt wurde.

Bubumm.

Ob 'Mihael Keehl' Kira überführte?

Bubumm.

Er würde es nie erfahren, denn sein Weg endete hier.

Bubumm.

Jetzt.




"Vergiss es!", zischte es wie eine Giftschlange im Schutz der Finsternis. Mello sah sie nicht, wurde aber von ihr gepackt und mitgerissen. Worte bissen in seine Bewusstlosigkeit, ohne erfasst zu werden. Sein Geist wandelte zwischen 'Sein' und 'Gewesen' - auf der Grenze von Leben und Tod, schwankte von der Seite, auf der man ihn mit hektischen Silben beschwor, zu jener, die mit Stille lockte, Schweigen, Dunkelheit und ewigem Vergessen.
Ruhe, die Mello nie gekannt hatte, hüllte sich wie ein Mantel um seinen Körper, der genau das brauchte. Ruhe. Sie würde alles von ihm fernhalten, bis es bloß noch eines gab: Das Nichts.

"... eibst hier!"

Erneut vergiftete das Zischen die Stille. Lauter als zuvor, energischer und so wütend, dass Mellos Finsternis pulsierte.

Bubumm.

"... gehst nicht, verstanden?"

Mello verstand nur, dass er weder ging, noch dazu in der Lage war, sich überhaupt zu regen. Sein Körper war annähernd so leblos wie es sich für einen Toten gehörte, dessen Ruhe man nicht ständig störte. Warum ignorierte die nervige Stimme seinen Wunsch, den Ort erreichen zu wollen, an dem man Frieden fand? Fernab von dieser Welt; von dieser Zeit. Denn hier und jetzt wartete eh niemand auf ihn. Die Hölle auf Erden hielt nichts für ihn bereit, außer der Kälte, die sich plötzlich um ihn legte, und der Härte, über die man ihn schleifte.
Wärme und Geborgenheit hingegen existierten einzig in Mellos Erinnerung, seit sie ihm nach und nach genommen worden waren. Zusammen mit Matt, L und M -

"Vorsicht!"

"Bleib weg!"

Krach erstickte die Stimmen. Ein Rumsen wie platzendes Metall, gefolgt vom Rauschen einer Feuerwelle, die Mellos Finsternis für einen Sekundenbruchteil überschwappte, und dem Prasseln von Schutt und Staub.

Ob im Leben oder im Tod - was soeben geschehen war, erkannte Mello, da er es schon einmal am eigenen Leib erfahren hatte. Eine Explosion. Zwar schwächer als jene, die er einst selbst auslösen musste, um aus dem Mafiaversteck zu entkommen, aber dennoch gewaltig genug, sodass sie die gleichen Empfindungen wachrief. Wie damals loderte in Mello keine Angst, sondern bloß die Überzeugung, dass - egal was passierte - alles nur noch besser werden konnte.

Allerdings erlosch der Hoffnungsschimmer sofort, als Mello erneut in Dunkelheit abtauchte. Über ihm lauerte ein Schatten, der Schutt, Staub und wärmendes Feuer fernhielt.

"Ist alles in Ordnung?", echote es monoton im Hintergrund.

Die Stimmen kehrten zurück, doch lediglich ein Ausruf erreichte Mello. "Scheiße ..."

Er lauschte dem Zorn wie einem beruhigenden Singsang, während er sich auf dem Fluss in Richtung Unterwelt treiben ließ. Mello war müde und wollte einschlafen, um von dem Leben wegzukommen, dessen Sinn er sowieso nicht mehr kannte, hin zu einer Freiheit, die ihm der Tod bot. Freiheit und vielleicht das Glück, auf der anderen Seite wieder ...

"Nein nein nein", keifte es über ihm und schwemmte Mello zurück ins Hier. Freiheit und Glück versanken, ehe Mello sie erreichen konnte. War ihm denn tatsächlich nichts vergönnt? Noch nicht einmal diese eine, einfache Sache? Sterben.

Heftiger als die Erkenntnis traf ihn der Schmerz, der ihn sogar noch weiter vom ersehnten Ziel fortriss. Stechen und Brennen attackierten seine Brust, als hätte man Mello mit einer Nadel erdolcht, um ihn ans Diesseits zu pinnen.

Mello ertrug es nicht länger. Weder die Stimme, die ihn festhielt, noch den Schmerz. Beides wollte er abschütteln, sich dagegen wehren, schreien, blieb aber stumm. Kein Laut entwich ihm. Nichts verließ seinen Körper. Noch nicht einmal das Leben.

Gestraft wurde seine Unfähigkeit von einem zweiten Stich in den Brustkorb und wiederholtem Druck, der scheinbar rhythmisch seine Rippen brechen sollte. Warum tat man ihm das an? Hatte er denn nicht schon genug gelitten?
Bilder aus längst vergangenen Zeiten blitzen vor seinen verschlossenen Augen auf. Sie zeigten Leichen - aber auch seine Jugend, Ausgelassenheit, Spaß und Freunde.

"Lächelst du etwa, du Idiot?"

Lächelte er? Bestimmt nicht. Mello lächelte nie!
Oder?

Trotzdem zupfte etwas an seinen Mundwinkeln, bis sich seine Lippen voneinander lösten und frische Luft vorbei ließen. Erst eine Briese, dann einen Windzug und plötzlich einen Sturm. Wie ein Orkan raste Sauerstoff in seine Lungenflügel, blähte sie auf und ...

"Endlich."

... zwang ihn zum Atmen. Mello keuchte. Sein Oberkörper bäumte sich so weit auf, dass die Lederweste knirschte, bevor er wieder zusammensackte und auf hartem Grund liegen blieb. Beton schabte an seinen Schulterblättern, während sich Leben in ihn pumpte, obwohl Mello nur Platz für den Tod gelassen hatte. Er fühlte sich, als würde er in einen Albtraum hinein erwachen. Die ersehnte Ruhe war endgültig fort. Dafür wütete in ihm ein Chaos, das er nicht beherrschen konnte, weil es von Atemzug zu Atemzug von Schmerzen angefeuert wurde, die sich von den Fingerspitzen zu den Zehen durch seine Gliedmaßen brannten. Zudem loderte ein Feuer, welches die Stimme mit ihrem unverständlichen Gefasel immer weiter entfachte. Mello verstand kein Wort, doch Freude hörte er heraus. Wer war so verdammt grausam, sich am Leid eines Menschen zu laben, der es fast geschafft hatte, diese verfluchte Welt hinter sich zu lassen?
Mello war dem ewigen Nichts nahe gewesen! Und jetzt? Jetzt war da nicht Nichts, sondern Etwas. Wut auf sich selbst, da er nicht rechtzeitig krepiert war. Ärger auf jene, die längst im Jenseits hockten und dort vermutlich Matts Willkommensparty feierten. Und blanker Hass auf die Tyrannen, die ihn im Diesseits fesselten, weil sie schlichtweg nicht kapierten, wie erlösend ein Herzstillstand war.

Zorn pochte in Mellos Brust wie Hammerschläge auf eine Mauer und betäubte jeglichen physischen Schmerz. Leiden konnte er zu einem späteren Zeitpunkt, sobald es ihm gelungen war, die Unbekannten leiden zu lassen. Vor allem die giftende Stimme sollte begreifen, was Qual bedeutete, da sie einfach nicht aufhörte, ihn mit Gelaber zu belästigen, von dem kaum ein Bruchteil in seine Bewusstlosigkeit vordrang. Mello wollte hören, was sie sagte, und wollte sehen, wie sie auf seine Antworten reagierte, wollte dabei ihre Angst vor ihm wittern, statt ... ja, was roch er gerade eigentlich? Den Duft einer geschnittenen Wiese? Im Morgentau? Oder woher kam der Tropfen, der auf seine Lippen perlte? Und wieso schmeckte der salzig?
Mellos Sinne kehrten allmählich zurück.

"Wir sollten uns beeilen. Da kommt jemand", hörte er ein monotones Brummen.

"Aber..."

"Bringen wir ihn nachhause."

"Er ist noch zu schwach..."

Abrupt versagte sein Gehör, als man ihn bewegte und vom Beton auf etwas weicherem bettete. Bei den Unbekannten handelte es sich also nicht bloß um Unruhestifter, sondern um Entführer, die ihn jetzt über unebenes Gelände transportierten. Mello lag und schaukelte zugleich, während ihm bewusst wurde, wie man ihn zuvor betitelt hatte. Er war schwach? Wie konnte diese verdammte Stimme es wagen?

Sein Ego überholte den rasenden Puls, schoss hinter seine Lider und riss sie endlich auf. Licht stach in seine Netzhaut wie Nadeln, die ihn erneut in Schwärze einnähen wollten, doch Mello blinzelte sie weg, um zumindest so lang klar zu bleiben, bis er seinem Hass auf die Nervensäge Ausdruck verliehen hätte. Aufgestauter Frust sammelte sich in seinem Blick und zielte auf den Kopf, der sich über seinem befand. Gleich würde jemand in Angst ausbrechen, panisch zurückweichen und ...

Mello war tot. Er wusste es, als er in ein Gemisch aus Blau und Grün starrte, welches seit fünf Jahren, elf Monaten und zwölf Tagen nicht mehr im Diesseits existierte. Feige hatte es sich ins Jenseits gestürzt. In einen Abgrund, in den auch Mello fallen musste. Um frei zu sein. Um wieder er selbst zu sein. Und ... um vielleicht aufgefangen zu werden.

Es war soweit. Mello schloss die Augen, ließ endgültig los und sackte in die Finsternis.  

Totgeglaubte leben länger!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt