1. Mutter und Vater

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Mutter, Vater,

wenn ihr diesen Brief lest, werde ich schon längst tot sein.

Okay, das klingt jetzt dramatischer, als es eigentlich ist, aber ich brauchte einen guten Einstieg in das Ganze hier.

Es war unausweichlich, das wussten wir alle schon lange. Es war nur eine Frage der Zeit und dennoch habt ihr nie aufgegeben, ihr habt die unterschiedlichsten Behandlungen ausprobiert, mich zu dutzenden Therapien geschickt, neue Medikamente und Methoden getestet... aber letztendlich war es vergeblich. Ich wusste immer, ich würde sterben. Ihr wusstet das auch. Das hat euch der Arzt schließlich vor zwölf Jahren gesagt. Aber statt dem einen Jahr, welches er mir gegeben hat, habe ich doch etwas länger durchgehalten, nicht wahr?

Aber so ist das leider. Das Non-Hodgkin-Lymphom und das Wiskott-Aldrich-Syndrom kombiniert haben mir nie viele Chancen gelassen. Irgendwann hätte es mich zu hundert Prozent dahingerafft. Aber ihr dürft euch nicht die Schuld darangeben. Keiner von euch hätte wissen können, dass ihr mir das vererbt. Es ist ja nicht so, als hätte man genau das testen können, nicht wahr?

Wie dem auch sei. Ich bin in meinem letzten Sprint angekommen und die finalen Meter liegen vor mir. Damit habe ich mich doch schon lange abgefunden und ihr hoffentlich auch. Jedenfalls: Ich bin tot, wenn ihr diesen Brief lesen werdet.

Aber das ist nicht der einzige Brief, den ich geschrieben habe. Wenn ihr diesen gefunden habt, dann werdet ihr auch die anderen gefunden, zumindest gehe ich schwer davon aus, denn immerhin lagen sie alle in einer Schatulle. Und wenn nicht, dann lest ihr diesen Brief wohl auch nicht und alles hier ist nichtig.

In der Schatulle werdet ihr vierzehn weitere Briefe gefunden haben. Ich habe jeden von ihnen beschriftet. Seht es als meinen letzten Wunsch an, diese Briefe an ihre jeweiligen Adressaten zu schicken, damit sie sie lesen können. Ich werde zwar nie ihre Gesichter sehen können, wenn sie sie lesen, aber es würde mir schon ausreichen, wenn ich mit dem Gedanken sterben könnte, dass meine letzten Worte sie definitiv erreicht haben.

Da das geklärt wäre... Mama, Papa. Ich liebe euch. Ihr habt mir ein wunderschönes Leben geschenkt und ich will nicht, dass ihr meinetwegen traurig seid. Ihr habt alles für mich getan, habt mir mehr gegeben, als ich euch je zurückzahlen könnte. Ich kann euch nicht sagen, wie froh ich bin, dass ihr meine Eltern seid. Nie war ich euch böse, dass ich mit dieser Krankheit geboren wurde. Nie habe ich gedacht, dass es einfach nur unfair ist, dass gerade ich erkrankt bin, aber Levi nicht.

Ihr wart mutig genug, zwei Kinder in die Welt zu setzen und eines von ihnen ist kerngesund. Das ist ein guter Schnitt. Macht euch keine Vorwürfe, wenn ich nicht mehr da bin. Denkt einfach nur daran, dass ihr mir das beste Leben ermöglicht habt, für welches ihr sorgen konntet. Wir hatten vielleicht keine riesige Villa oder einen Privatflieger, eine Yacht im Hafen oder drei schicke Autos in der Garage und auch keine portugiesische Haushaltshilfe, die die Wäsche macht, aber das brauchten wir auch nie. Wir hatten immer einander, ich hatte euch und Levi und Colt.

Ich kann mich immer noch an den Tag erinnern, als wir Colt gekauft haben. Wir kamen vom Krankenhaus und ihr wart so still und ich weiß nicht, wann ihr euch darauf geeinigt habt, aber ohne ein Gespräch von euch sind wir zum Tierheim gefahren und ich durfte mir ein Haustier aussuchen. Natürlich musste ich diesen unglaublich aktiven und niedlichen Schäferhundwelpen nehmen. Es ging gar nicht anders. Er hat mich mit diesen großen braunen Augen angeguckt und da war es um das neunjährige-Ich geschehen. Und auch jetzt brauche ich meinen Colt nur anzugucken und mir geht es besser. Ihr wolltet, dass ich wenigstens noch ein paar schöne Monate mit einem Gefährten an meiner Seite erleben und stattdessen haben wir beide euch noch zwölf weitere Jahre auf der Tasche gelegen.

Ich liebe euch, wirklich. Und ich weiß, ihr werdet weinen, wenn ich erst einmal wirklich tot bin. Daran könnte ich gar nichts ändern und selbst, wenn ich es verbieten würde, würdet ihr nicht auf mich hören. Ihr werdet weinen, weil ihr mich liebt und das weiß ich auch. Ich liebe euch und ihr liebt mich und nichts wird diese Liebe je überschatten können. Nicht mein Tod und auch nicht mein gänzliches Verschwinden aus den Erinnerungen aller.

Bitte, gebt meine Briefe weiter. Lasst meine letzten Worte gelesen werden. Und auch wenn ich unglaublich melodramatisch klinge, aber lasst meine Existenz nicht verklingen. Ich will, dass man sich auch in zehn Jahren noch an mich erinnern wird, auch wenn dann die Schrift auf meinem Grabstein von Wind und Wetter schon lange verwittert ist und ihr nicht mehr jedes Wochenende neue Blumen auf die kalte Erde legt. Das würde auch mit der Zeit viel zu sehr ins Geld gehen.

Aber ich will nicht vergessen werden. Ich habe vielleicht nichts Großartiges in meinem Leben geleistet, aber trotzdem. Wenn ich vergessen werde, welchen Sinn hatte mein Dasein dann schon?

In ewiger, sehr kitschiger, Liebe,

Nick.

Marchin OnWo Geschichten leben. Entdecke jetzt