10. Isabella

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Isabella,

es fällt mir bisher am schwersten deinen Brief zu schreiben und das liegt nicht daran, dass du kontinuierlich in meiner Nähe bist und in das Krankenhauszimmer platzen kannst, wenn du es nicht solltest. Von allen Adressaten kenne ich dich wahrscheinlich am längsten, ich glaube sogar länger als meinen Bruder. Wir haben uns kennengelernt, da haben wir beide noch im Sandkasten den Dreck gegessen und uns gegenseitig mit der Schaufel geschlagen. Ich weiß nicht, was uns dazu veranlasste Freunde zu werden, aber ich bin froh, dass wir es sind. Du bist meine älteste und engste Freundin und ich könnte nicht glücklicher sein, jemanden wie dich zu haben. Du bist deinem eigenen Ich treu und devot und lässt dich nicht von deinen Entscheidungen abbringen. Du ziehst es seit Jahren mit deinem Veganismus durch und du bist die beste Krankenschwester, die ich je hatte. Bei dir tun die Nadeln auch nur halb so sehr weh.

Auch wenn ich es hasse, dass du mich so sehen musst, bin ich doch froh, dass du immer bei mir bist. Ich kann in diesem Moment nur von Glück reden, dass ich gerade in dem Krankenhaus stationiert wurde, in welchem du dein letztes Lehrjahr abschließt. Ich wünschte nur, du müsstest nicht sehen, wie schrecklich ich aussehe. So dünn, so fiebrig. Als ich das letzte Mal in den Spiegel geschaut habe, sah ich aus wie der Tod höchstpersönlich und wahrscheinlich ist das für dich auch schwer. Du kennst mich fast mein ganzes Leben lang und jetzt musst du sehen, wie ich sterben und ich will dir das nicht aufbürden, Isa. Wirklich, einerseits will ich nicht, dass du weiterhin meiner Nähe bist, andererseits könnte ich es nicht ertragen, wenn ich dich nicht mehr sehen würde. Aber wahrscheinlich wirst du als Krankenschwester noch viel schlimmere Krankheiten sehen, nicht wahr? Vielleicht wirst du dann keine starke, emotionale Bindung mit den Leuten haben, aber trotzdem... ist doch ein guter Zweck zum Abhärten. Ich hasse es.

Wenn du endlich fertig mit deiner Lehre bist und eine größere Wohnung mieten kannst, dann kommen bestimmt noch drei weitere Katzen zu Nick, Micky und Charlie dazu, nicht wahr? Noch immer finde ich, dass es das süßeste überhaupt war, eine deiner Katzen nach mir zu benennen. Es war für dich vielleicht eine spontane und nicht unbedingt durchdachte Entscheidung, aber mir bedeutete es wirklich viel. So fühlt es sich irgendwie an, als würde etwas von mir zurückbleiben, etwas, dass wirklich noch lebt. Ich mochte Nick immer liebsten von deinen Katzen. Er war so verschmust und hat immer auf meinem Bauch geschlafen, wenn ich bei dir war... irgendwie würde ich ihn gerne noch ein letztes Mal sehen, aber das geht wohl nicht. Versprich mir, dass du gut auf ihn Acht geben wirst.

Und es tut mir Leid, dass ich nie diese Bucket-List ernst genommen habe, die du mit mir machen wolltest. Ich fand die doof. Ich wollte keine Liste haben, die mir nur noch mehr klar machen würde, dass meine Zeit begrenzt ist. Ich weiß, es war dir wichtig und ich habe deinen Wunsch nur halbherzig befüllt und jetzt fühle ich mich wie ein Arschloch, weil ich nur so einfache Sachen draufgeschrieben habe. Dort steht nichts von 'Paris besuchen' oder 'mit einem Delfin schwimmen', sondern nur 'die Schule beenden' und 'einmal LSD nehmen'. Immerhin konnte ich die beiden Punkte abschließen und hey, immerhin waren sie beide mit dir zusammen, also zählt das doch doppelt, aufgrund von emotionaler Stärke und so, oder?

Nein, wahrscheinlich nicht. Und das LSD war auch richtig scheiße. Meinetwegen hätten wir den Scheiß ruhig lassen können, das war nun wirklich nicht nötig gewesen. Stattdessen hätte ich lieber mit einem Delfin schwimmen sollen, so wie du mir vorgeschlagen hast. Menschen sollten viel mehr auf dich hören, Isa. Du gibst wunderbare Ratschläge und das nicht nur, weil du uns dazu bringen willst, mehr auf unseren Fleischkonsum zu achten oder sonstiges, sondern auch, weil du rational bist und dich selten bis gar nicht von Gefühlen beeinflussen lässt.

Du hast dich nie zum Affen gemacht, um einem Jungen zu gefallen. Du warst nie eifersüchtig, wenn andere Mädchen in deinem Alter einen festen Freund hatten. Dich hat sowas noch nie gekümmert. Weißt du, du hast mir das zwar nie explizit gesagt, aber dank Levi habe ich einen ganz guten Eindruck in diese ganzen speziellen Sexualitäten und sowas bekommen und ich glaube, dich würde ich als aromantisch einstufen. Oder asexuell. Eins von beiden. Dich hat nie eine Beziehung interessiert und irgendwie... irgendwie habe ich dich immer deswegen bewundert. Du musstest dich nicht mit Herzschmerz herumschlagen oder hast deine Zeit damit verplempert, einem Typen zu gefallen. Du hast dich stattdessen auf dich und deine Zukunft fokussiert und ich weiß nicht... es hat dir ziemlich geholfen. Du bist eine verdammt gute Krankenschwester in spe und ich weiß, du wirst deine Abschlussprüfung einfach nur rocken. Und wer weiß, nur weil du jetzt keine Beziehung suchst und weil du jetzt niemanden kennst, den du mehr als platonische Freundschaft magst, heißt das nicht, dass die Möglichkeit gestorben ist. Und bis dahin bleibst du eben die verrückte Katzenlady.

Ich weiß nicht, wie ich gerade jetzt darauf komme, aber das erinnert mich an diese riesige Tomate, die du mal auf deinem Balkon gezüchtet hast und dann einfach nach Colin benannt hast, weil dich ihre Form an ihn erinnert hat. Nein... Eigentlich weiß ich, warum mir das einfällt. Weil ich mich immer noch davor drücke seinen Brief anzufangen. Ich habe mir einige Worte zurechtgelegt, aber jedes Mal, wenn ich sie niederschreiben will, dann verschwimmen sie und meine Finger scheinen von ganz alleine einen anderen Namen aufs Papier zu bringen. Damit will ich auch nicht sagen, dass du ein Ersatz oder sowas bist. Ich will damit nur sagen, dass es mir einfacher fällt, dir zu schreiben. Colins Brief wird mich einiges an Überwindung kosten. Und Kraft. Jede, jede Menge Kraft. Ich weiß noch nicht, ob ich die aufbringen kann, obwohl ich weiß, dass das meine letzten Worte an ihn sein werden. Wenn du diese Zeilen noch lesen könntest, wenn ich noch lebe, dann könntest du mir immerhin ordentlich in den Hintern treten, damit ich mich nicht wie ein verdammtes Weichei benehme. Es sind nur ein paar Worte. Stell dich nicht so an, Nick.

Sowas würdest du wahrscheinlich sagen und du hast ja Recht. Es sind nur ein paar Worte, aber sie haben verdammt viel Impakt. Zumindest für mich.

Jetzt könnte ich eine deiner inspirierenden Reden wie aus König der Löwen gebrauchen. Du würdest wie Mufasa im Himmel auftauchen und mit einer rauchigen Stimme von mir verlangen, dass ich nicht der Vergangenheit nachtrauere, sondern nach vorne blicke, oder sonstiges. Wahrscheinlich wurdest du aufgrund dieser tollen Fähigkeit auch drei Jahre infolge zur Klassensprecherin gewählt, auch wenn das erste Mal ja nur als Scherz gedacht war. Kinder sind schrecklich, besonders wenn sie in der Pubertät sind.

Da du dir ja in den Kopf gesetzt hast, meine Bucket-List nicht nur für mich zu vervollständigen, sondern auch komplett zu erfüllen, habe ich eine Anfrage an dich. Du musst einen ganz besonderen Punkt hinzufügen, von dem ich weiß, dass er dir gefallen wird. 'Verkleide dich als Prinzessin Tiana aus Disneys Küss den Frosch'!

Du wolltest das seit Jahren machen und hast es nie durchgezogen! Ich weiß, du hast im Moment viel Arbeit, so eine Lehre zur Krankenschwester ist anstrengend und so ein Kostüm kostet echt Geld... aber es wäre echt cool, wenn du es wirklich irgendwann machen würdest. Das würde mir viel bedeuten, weil es dich wahrscheinlich echt glücklich machen würde. Du wärst eine tolle Tiana. Ihr seid euch immerhin sehr ähnlich, nur ohne diesen ganzen Wahre Liebe-Kram.

Da ich weiß, dass du mich anmeckern würdest, weil ich Colins Brief immer weiter aufschiebe, werde ich auf deinen nicht vorhandenen Rat hören. Ich muss diese Worte loswerden. Du hast Recht. Du hast immer Recht, Isabella.

In Liebe,

Nick.

Marchin OnWo Geschichten leben. Entdecke jetzt