4. Lea

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Lea,

ich reite jetzt auch so spät durch Nacht und Wind. Der Erlkönig erwartet mich.

Tut mir leid, das konnte ich mir nun wirklich nicht verkneifen. Du hast mich so oft mit solchen Zitaten gequält, es wäre nur fair, wenn ich mich einmal revanchieren würde, nicht? Bis zum heutigen Tag habe ich nicht verstanden, was genau du an diesem Gedicht so findest, aber jetzt soll es mich auch nicht mehr wirklich stören. Ich könnte mit dieser Information eh nicht mehr viel anfangen.

Wir kennen uns tatsächlich ja noch gar nicht so lange, wie mir nun auffällt, da ich diese Zeilen schreibe und ich muss gestehen, ich habe das gar nicht so auf dem Schirm gehabt. Weil es mit dir immer so einfach war, fühlte es sich an, als würden wir uns schon Ewigkeiten und nicht nur zwei Jahre kennen. Hätte ich mich an diesem Abend nicht betrinken wollen, dann wären wir uns wahrscheinlich nie begegnet, witzig, oder? Dank dem Alkohol für mich, wenn du das liest.

Und das erinnert mich einfach wieder daran, wie genau wir uns kennenlernten. Ich habe doch aus Versehen Bier auf dein Notizbuch geschüttet und du hattest eigentlich vor, mich mit deinem Cocktailschirmchen zu erstechen, hast dann aber glücklicherweise davon abgesehen, weil ich fast umgekippt bin. So genau weiß ich nicht mal mehr, was an dem Abend alles passiert ist, aber eine Woche später bist du mir im Supermarkt über den Weg gelaufen und dann wieder bei der Tankstelle und dann noch mal beim Laufen mit meinem Bruder. Bis heute sehe ich es als Wink des Schicksals an, dass wir uns so oft über den Weg gelaufen sind. Ich glaube einfach nicht mehr, dass es ein Zufall war.

Irgendeine größere Macht hat uns zusammengeführt, oder nicht? Es hat beinahe etwas Poetisches, findest du nicht? Der Krebskranke und die Lyrikerin.

Vielleicht machst du ja ein Gedicht aus unserer Geschichte, das könntest du dann in deinem Poetry-Slam-Klub vortragen. Ich würde dich ja – natürlich total freiwillig – begleiten und dir zuhören und dann würde ich am lautesten applaudieren... ich würde wirklich. Das wäre ich dir nur schuldig, nach dem, was ich dir angetan habe, oder?

Es war wirklich unfair, dass ich aus heiterem Himmel mit dir Schluss gemacht und dir nicht mal eine richtige Begründung gegeben habe. Natürlich, du hast es selbst herausgefunden, aber trotzdem. Es war nicht fair und es tut mir leid. Das hast du nicht verdient. Du hast jemanden verdient, der wenn dann wenigstens die Eier in der Hose hat, um dir auch zu sagen, was Sache ist. Und nicht so wie ich, mit dir Schluss macht, weil er es für besser hält. Ich wollte einfach nicht, dass wir noch zusammen sind, wenn ich gehe. Das hätte dich sicherlich noch härter getroffen. Zumindest rede ich mir das ein, damit ich mit meiner Entscheidung leben kann.

Diese Sache erinnert mich immer wieder daran, wie du mich auf deinem Motorrad mitgenommen hast und wir uns dann den Sonnenuntergang auf diesem Hügel angesehen haben. Es war toll. Es war wirklich, wirklich toll. Ich erinnere mich so gerne an diesen Moment zurück und wenn ich mich dann daran erinnere, was danach passierte, dann fühle ich mich immer irgendwie schlecht. Hätte ich dich in diesem Moment nicht geküsst, dann hätte ich dir nicht so viele Schmerzen bereitet und du hättest nicht so viel meiner Dummheit ertragen müssen. Es war vollkommen richtig von dir, dass du mich einen Idioten genannt hast, weil ich meiner Krankheit wegen mit dir Schluss gemacht habe.

Aber gut. Das Geschehene kann man nicht rückgängig machen. Das ist uns beiden klar. Auch wenn du mehr als einmal versucht hast, Mephisto zu rufen und einen Pakt mit ihm einzugehen. Ich halte dich deswegen immer noch für vollkommen verrückt, das weißt du ja. 'Faust' ist ein erfundenes Werk und Mephisto existiert nicht. Du hast ihn auch nicht einmal in der U-Bahn gesehen. Das war ein Penner, der Geld von dir wollte und nicht der Teufel, der deine Seele gegen was-auch-immer eintauschen wollte.

Marchin OnWo Geschichten leben. Entdecke jetzt