Kapitel 1

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Wenn jemand mich gefragt hätte, wie ich Paul Deyer beschreiben würde, dann hätte ich wohl gesagt, dass ich ihn gruselig fand. Ich war noch nie Jemandem wie ihm begegnet. Er trug immer dieselbe Lederjacke, welche mit Nieten besetzt war und seine dunklen Haare waren stets zusammengebunden. Außerdem schien ihm alles egal zu sein. Das Wort Regeln gab es für ihn nicht. Paul Deyer war das genaue Gegenteil von mir. Ich mit meinen kurzen, blonden Haaren und den gebügelten Hemden. Ich hatte auch noch nie gegen eine Regel verstoßen oder war irgendwann einmal unpünktlich gewesen. Und ich beneidete Paul Deyer verdammt noch mal für seinen Mut.

"Hey Luke, alles klar?", fragte meine beste Freundin Jade mich und rüttelte an meiner Schulter. Mein Gesicht wurde feuerrot, als mir bewusst wurde, dass ich Paul Deyer bereits seit einigen Minuten quer durch die Cafeteria unserer Schule angestarrt hatte. Er saß alleine an einem Tisch und spielte mit einem Feuerzeug. Auf seinem Gesicht war der übliche düstere Gesichtsausdruck und hinter seinem Ohr klemmte ein Joint. Es wunderte mich, dass er ihn noch nicht angezündet hatte.

"Wen starrst du denn so verträumt an?", fragte Sandy, die Freundin meines älteren Bruders, die sich sich seit er auf dem College war immer zu meinen Freunden und mir setzte, obwohl sie um einiges beliebter war als wir. "Niemanden.", presste ich hervor und rutschte tiefer in meinen Stuhl. Doch natürlich sahen Jade und Sandy in die Richtung, in die ich geblickt hatte und entdeckten Paul. "Oh mein Gott! Ist da etwa jemand in den Außenseiter verknallt?", fragte Sandy und riss ihre Augen auf. "Was? Nein, auf keinen Fall!", rief ich sofort. Vielleicht ein wenig zu schnell, denn Jade und Sandy wackelten beide sofort mit ihren Augenbrauen. Dabei hatte ich es tatsächlich so gemeint. Ich war nicht in Paul verknallt, ich fand ihn lediglich interessant, weil er so anders war als alle anderen.

"Unser Luke ist verliebt.", zwitscherte Sandy, als sich Aaron und Lucy zu uns setzten. Ich stöhnte. "Bin ich nicht.", stellte ich klar und begann in meiner Pasta herumzustochern. "Du musst mir alles erzählen.", sagte Lucy begeistert. Ich vergrub mein Gesicht in den Händen.

Biologie, Englisch und Mathematik waren die Kurse, die ich und Paul Deyer gemeinsam hatten. Natürlich hatte ich direkt nach der Mittagspause eine Doppelstunde Biologie. Unser Lehrer Mr. Tucker, kam beschwingt in den Raum und warf einen Stapel Blätter vor sich aufs Pult. Er grinste zufrieden und begann ohne Umschweife sofort zu erzählen. "Ich habe beschlossen in diesem Halbjahr ein größeres Projekt zu starten, welches ihr selbstständig in Zweierteams bearbeitet. Jede Gruppe bekommt ein eigenes Thema, über welches am Ende des Jahres ein Vortrag gehalten werden soll. Bei diesem Projekt geht es darum, dass ihr lernt selbständig zu arbeiten und euch eure Arbeitszeit gut einzuteilen.", begeistert klatschte er in die Hände. Dann nahm er das erste Blatt von seinem Stapel und begann die Namen der Teams vorzulesen, die er ausgelost hatte. Ich hörte kaum zu, bis Mr. Tucker meinen Namen aufrief "Luke Milton, arbeitet zusammen mit", ich sah auf. "Paul Deyer." Mir entfuhr ein Japsen, dass ich in ein Husten umzuwandeln versuchte, was mir kläglich misslang. Da ich hörte ein tiefes Lachen hinter mir. Unwillkürlich drehte ich mich um. Paul saß zusammen mit seinem einzigen Freund Eric Walters, der aussah wie ein Frettchen mit zurück gegeelten Haaren, in der letzten Reihe, drehte sein Feuerzeug in der Hand und ließ seine Augenbrauen ganz kurz nach oben zucken als er sah, dass ich ihn anstarrte. Sofort drehte ich mich zurück und sah auf die Tischplatte.

Ich wusste nicht was ich tun sollte. Am besten machte ich das Projekt einfach alleine, denn nichts machte mir mehr Angst als die Vorstellung Paul ansprechen zu müssen um zu fragen wie er sich das mit der gemeinsamen Arbeit vorgestellt hatte.

Doch am Ende der Stunde ragte plötzlich ein großer Schatten vor meinem Platz auf. Als ich aufsah, schwebten Paul Deyers dunkle Augen direkt über mir. "Hey, Kleiner.", sagte er und lehnte sich an den Tisch vor meinem an. Langsam stand ich auf. Warum war mir bisher nicht aufgefallen wie riesig dieser Kerl war? "Hallo.", murmelte ich und wusste nicht ob ich gehen sollte oder bleiben. Unsicher trat ich von einem Bein aufs andere. "Also, ich vermute du als Streber hast schon eine genaue Vorstellung wie du dieses Projekt bearbeiten willst. Deswegen schlage ich vor du gibst mir einfach Anweisungen und versuchen einfach diese Sache so schnell wie möglich zu beenden.", sagte er und verschränkte die Arme vor der Brust. Ich schulterte meine Tasche. "Ähm...okay.", ich war ein wenig überfordert, da ich eigentlich erwartet hatte, dass ihn dieses Projekt gar nichtinteressieren würde. Paul nickte und verließ den Kursraum. Ich blieb ein paar Sekunden stehen, bevor ich ihm folgte.

Als ich schließlich nach der letzten Stunde meine Bücher in meinem Schließfach verstaute, wurde die Tür des Spinds plötzlich zugeschlagen und ich konnte gerade noch meine Finger herausziehen, bevor ich den Menschen ansah, der da vor mir stand. Es war Paul. "Gib mir mal dein Handy.", sagte er und hielt mir auffordernd seine Hand hin. "Was?", fragte ich und blieb regungslos stehen. "Du brauchst ja wohl meine Nummer, sonst wird das mit dem Treffen fürs Lernen wohl nichts.", sagte er ungeduldig. Langsam holte ich mein Smartphone aus meiner Hosentasche und er nahm es mir aus der Hand. Nachdem er es eingeschaltet hatte, kam wohl mein Sicherheitscode, den er logischerweise nicht kannte, doch statt mich danach zu fragen oder mir das Handy zurückzugeben damit ich den Code eingeben konnte, nahm er einfach meine Hand und drückte meinen Finger auf den Home Button, um das Telefon mithilfe der Touch-ID zu entsperren. Seine Finger waren warm, trocken und an seinem Daumen und Mittelfinger trug er jeweils breite, silberne Ringe. Seine Hände sahen wirklich gut aus.

Konzentriert tippte er auf meinem Handy herum und gab es mir dann zurück, bevor er sich umdrehte und wortlos davonging. Ich sah aufs Display. Paul hatte sich als Projektpartner eingespeichert.

Als ich zuhause war, begann ich sofort zu unserem Thema, "Tropische Fischarten" zu recherchieren. Paul hatte Recht gehabt, wir sollten dieses Projekt so schnell hinter uns bringen wie möglich. Am frühen Abend schickte Lucy mir eine Nachricht mit der Frage ob ich heute Abend mit ihr und den anderen in den einzigen vernünftigen Club unserer Kleinstadt gehen wollte. Ich sagte ihr zu, weil ich merkte, dass meine Gedanken die ganze Zeit zu Paul Deyer wanderten, obwohl sie das nicht sollten.

Der Club war selbst für einen Freitagabend sehr gut besucht und wir hatten Mühe uns einen Tisch zu besorgen. Aaron und Lucy meldeten sich freiwillig um Getränke zu holen und Jade warf mir einen vielsagenden Blick zu. "Ist dir auch aufgefallen, dass die beiden zurzeit jede Gelegenheit nutzen um allein zu sein?", fragte sie und sah ein wenig missmutig aus. Ich war überrascht. Jade ließ eigentlich nie durchblicken wie sie sich gerade fühlte und dieser unzufriedene Zug um ihre Lippen, war für meine beste Freundin quasi ein Ausbruch der Gefühle. Ich betrachtete sie von der Seite. Jade liebte es sich die Lippen und Augen in dunklen Farben anzumalen und heute hatte sie sich für ein dunkles Violett entschieden. Zusammen mit ihrem Nasenpiercing, dem kleinen Schwarzen und ihren langen, schwarzen Haaren sah sie wirklich toll aus. Wenn es nicht Aaron war, würde es bestimmt einen anderen Typen geben, dem sie den Kopf verdrehte. Wenn nicht mehrere. Ich sah neben ihr wie der spießigste Typ auf Erden aus. Ich trug ein weißes Hemd, Jeans und hatte meine Haare zu einem Seitenscheitel frisiert. Vermutlich würde niemals jemand denken, dass Jade und ich befreundet waren, doch wir kannten uns bereits seit dem Kindergarten und unser unterschiedlicher Kleidungsstiel hatte diese Freundschaft nicht beschädigt.

In diesem Moment kamen Lucy und Aaron mit den Drinks zurück. Wir stießen an und dann kam Jades Lieblingslied, was sie dazu veranlasste aufzukreischen, meinen Arm zu packen und mich auf die Tanzfläche zu ziehen. Die einzigen Momente in denen Jade zeigte wie sie sich fühlte waren die, in denen sie tanzte. Dann lachte sie immer. Gerade als wir den Refrain mitgrölten sah ich ihn. Paul Deyer lehnte an einer der Säulen, die die Tanzfläche von den Sitzplätzen abgrenzte. Ausnahmsweise war sein Schatten Eric Walters nicht bei ihm. Er trug ein schwarzes T-Shirt, was seine tätowierten Arme freilegte. Und seine Muskeln. Oh Gott. Er sah mich an, ganz eindeutig. Seine dunklen Augen waren direkt auf mich gerichtet und sein Blick hielt mich gefangen.

Erst als das Lied zu Ende war und Jade und ich die Tanzfläche verließen, löste ich meinen Blick von seinem. "Wen hast du denn die ganze Zeit angesehen?", fragte Jade. "Paul Deyer.", sagte ich bevor ich es zurückhalten konnte. "Was?", rief sie aus und sah sich sofort um. Als sie ihn entdeckte wurden ihre Augen groß. "Und du willst mir erzählen, dass du nicht auf ihn stehst?" "Ja, das will ich. Ich finde ihn einfach...interessant.", sagte ich und tat so als würde mich der Strohhalm meines Drinks gerade wahnsinnig faszinieren. "Aha, interessant.", sagte Jade und lachte. "Ja, genau.", murmelte ich und sah noch mal in die Richtung in der Paul gestanden hatte, aber er war bereits weg.

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