Mitten in der Nacht wurde ich von meinem lärmenden Handy geweckt. Ich versuchte es im Dunkeln zu greifen und zum Verstummen zu bringen, doch ich fegte es lediglich von meinem Nachttisch, sodass es mit einem dumpfen Schlag auf dem Boden landete. Nachdem ich es erwischt hatte, ging ich ran ohne auf das Display zu sehen. „Hallo?", meine Stimme war vom Schlaf ganz kratzig. „Hey.", antwortete mir eine sehr wohl bekannte Stimme. Sofort war ich wach. „Paul? Warum rufst du an?", ich sah auf die Uhr. „Es ist 4:30 Uhr." „Ich weiß auch nicht genau. Mein Bruder Lenny. Er ist im Krankenhaus. Und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass es eine gute Idee wäre dich anzurufen. Aber das war es eher nicht und es tut mir echt leid, dass ich dich geweckt habe.", seine Stimme klang erschöpft. „Warte.", sagte ich hastig, bevor er auflegen konnte. „Kann ich dir irgendwie helfen?" Ich konnte hören, wie er überrascht aufatmete. „Du könntest hierhin fahren.", seine Stimme hatte einen scherzhaften Unterton. Die Worte kamen heraus, bevor ich es verhindern konnte. „Ok, ich bin so schnell da wie ich kann. Dein Bruder liegt im örtlichen Krankenhaus, oder?", fragte ich ihn, während ich mich auf die Suche nach einer Hose machte. „Äh, ja.", er schien vollkommen überrumpelt zu sein. „Bis gleich.", dann legte ich auf.
Ein paar Minuten später saß ich im Auto. Meinem Vater hatte ich einen Zettel an meine Tür geklebt, damit er sich keine Sorgen machte. Während der Fahrt wurde mir langsam die Bedeutung meines Handelns bewusst. Ich fuhr gerade zu einem Krankenhaus, um einem Typen beizustehen, den ich kaum kannte und trotzdem mochte. Ich konnte mir nicht erklären wie ich in diese Situation gekommen war. Aber ich wollte auch keinen Rückzieher machen.
Als ich die Empfangshalle betrat wurde mir bewusst, dass ich keine Ahnung hatte auf welcher Station Pauls Bruder lag. Doch da sah ich ihn bereits. Paul Deyer stand vor dem Empfangstresen und sah auf sein Handy. Er hatte auf mich gewartet. Ich ging auf ihn zu und berührte ihn kurz an der Schulter. „Hey.", sagte ich leise und er sah auf. Pauls Augen waren ein wenig gerötet und er wirkte als hätte er in den vergangenen Stunden nicht geschlafen. „Hey.", erwiderte er. „Danke, dass du gekommen bist." Paul lächelte schief. „Kein Problem.", sagte ich und ließ mich von ihm in den Gang führen, in dem sein Bruder wohl stationiert war.
Dort sah ich einen Mann mit Glatze und Cordjacke auf einem Plastikstuhl sitzen. Er hatte sein Handy am Ohr. Neben ihm saßen zwei Kinder. Das Mädchen, in einer zu großen Jacke, hatte ihren Kopf auf die Schulter des Jungen neben sich gelegt, der älter war als sie. Beide hatten das gleiche dunkle Haar wie Paul und sahen mindestens genauso müde aus wie er.
Einen Moment standen wir in unangenehmes Schweigen gehüllt da, weil wir nicht wussten was wir sagen oder tun sollten. Doch da kam bereits ein Mann in weißem Kittel zu uns. Sofort wandten sich Paul und der Cordjacken-Mann ihm zu. „Wir haben ihrem Neffen den Magen ausgepumpt und ihn in ein Zimmer gebracht. Soweit hat er das Schlimmste überstanden. Er schläft jetzt.", erklärte der Arzt. Ich konnte sehen wie ein Teil der Anspannung von Paul wich, als wir uns auf den Weg zu dem Zimmer seines Bruders machten. Die Ungewissheit schien ihn verrückt gemacht zu haben.
Pauls Bruder Lenny lag an einen Tropf gehängt in einem Krankenhausbett. Seine Gesichtsfarbe war auffällig blass und er wirkte abgezehrt. Als die Familie sich ins Zimmer bewegte klingelte abermals das Handy von Pauls Onkel. Ich wunderte mich wer um diese Uhrzeit ständig anrief. Seufzend ging er aus dem Zimmer, um das Gespräch anzunehmen.
Ich blieb hinter Paul, als er sich auf den Stuhl neben dem Bett setzte. Er stützte die Ellenbogen auf die Knie und betrachtete seinen Bruder. Seine jüngeren Geschwister, die bisher noch keinen einzigen fragenden Blick auf mich geworfen hatten, sahen ihrerseits Paul an. Sie wirkten wie am Ende ihrer Kräfte. Ich fühlte mich unbehaglich, wie ein Fremdkörper, der in eine sehr intime Familiensituation geplatzt war. Mein Blick wanderte über die Geschwister und ich wurde von Mitleid erfüllt. Sie alle sahen so aus, als hätten sie bereits Einiges gemeinsam durchstehen müssen.
Kurzentschlossen berührte ich Paul an der Schulter. Er setzte sich auf und sah mich an. „Ich glaube ihr solltet nach Hause fahren. Ihr könnt hier nichts mehr für ihn tun und es würde euch gut tun euch ein wenig auszuruhen.", sagte ich leise, sah aber sofort den Widerstand in Pauls Augen. Es würde sich für ihn anfühlen, als hätte er seinen Bruder im Stich gelassen, wenn er jetzt ging.
„Ich werde hier bei ihm bleiben. Ihr solltet wirklich ein bisschen schlafen.", ich hatte Pauls Onkel gar nicht hereinkommen hören. „Dein Freund hat Recht, ihr könnt hier nichts mehr für ihn tun." Er lächelte ein trauriges Lächeln. „Ich ruf dich an, wenn er aufwacht oder irgendetwas ist."
Paul wirkte hin- und hergerissen, doch nachdem er einen Blick auf seine Geschwister geworfen hatte, welche ihr Augen kaum noch offenhalten konnten, stand er auf.
Wir verließen das Krankenhaus und traten auf den Parkplatz. Ich hatte vorgeschlagen, in meinem Auto zu fahren, da ich als einziger noch einigermaßen wach war. Paul trug seine kleine Schwester Grace auf dem Arm und sein kleiner Bruder Max trottete neben ihm her. Wir packten die Kleinen auf die Rückbank und Paul setzte sich neben mich.
Dann wurde mir etwas bewusst. „Du musst mir sagen wo ich hinmuss.", sagte ich zu Paul und er blinzelte mich zwischen seinen, bereits halb geschlossenen Lidern an. Ich war dankbar, dass wir in einer so kleinen Stadt wohnten und mir daher die Straße, die er mir nannte durchaus bekannt war.
Gerade als ich dachte, dass Paul eingeschlafen sei, ergriff er plötzlich das Wort. „Danke, dass du uns nach Hause fährst.", sagte er mit rauer Stimme. „Kein Problem.", erwiderte ich und setzte eine Frage hinterher, die mich bereits die gesamte Zeit beschäftigte. „Wo sind eigentlich deine Eltern?", fragte ich, bevor mich der Mut verließ. Paul ließ ein kleines freudloses Lachen hören. „Die sind weg. Beide. Meinen Vater kenne ich nicht und meine Mum ist abgehauen, als meine kleine Schwester zwei Jahre alt war." Er drehte seinen Kopf in meine Richtung, als wolle er meine Reaktion sehen. Ich bemühte mich, meinem Gesicht einen verständnisvollen Ausdruck zu geben und das Mitleid zu verstecken, welches mich bei seinen Worten erfasst hatte. Sie hatten sehr hart geklungen. „Aber, wir kommen schon klar. Onkel Mike ist echt ein guter Kerl, er hat uns damals ohne ein Wort zu sich genommen.", setzte Paul schnell hinterher.
„Das mit deinen Eltern tut mir leid.", sagte ich, obwohl ich wusste, wie hohl diese Phrase klang, obwohl ich es wirklich so meinte. Paul zuckte nur mit den Schultern und sah dann aus dem Fenster. Den Rest der Fahrt wechselten wir kein Wort.
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All Of Me
RomancePaul Deyer. Wie beschreibt man Paul Deyer? Als Bad Boy? Als gefährlich? Als abgefuckt? Als Einzelgänger? Letztendlich ist Paul Deyer das genaue Gegenteil von Luke. Luke hat gute Noten, eine Clique von treuen Freunden und eine Faszination für den geh...