Paul ließ sich am Freitag nicht in der Schule blicken. Ich wusste nicht warum, aber es störte mich. Also biss ich am Ende der Biostunde die Zähne zusammen und ging in die letzte Reihe, wo Pauls Busenfreund Eric saß. Er war gerade dabei seine Sachen in seine schwarze Tasche zu packen. Alles an Eric war schwarz. Seine Haare, die sein Gesicht fast vollständig bedeckten, seine abgewetzten Klamotten und seine Augen, die er immer mit einem schwarzen Eyeliner umrahmte. Er war klein und hager und ich wusste nicht ob ich ihn schon je mit irgendjemandem hatte sprechen sehen.
"Wo ist Paul heute?", fragte ich Eric. Dieser erschrak sich leicht und sah mich eine Sekunde verblüfft an, bevor er sich daran erinnerte, dass er sonst immer einen leicht gelangweilten Gesichtsausdruck zur Schau trug. "Keine Ahnung.", er zuckte mit den Schultern und wollte sich an mir vorbeischieben. "Wirklich?", fragte ich skeptisch und fasste ihn an der Schulter. Eric schien genervt und machte sich los. "Wenn du's unbedingt wissen willst: Seine kleine Schwester ist krank und er ist zuhause geblieben um sich um sie zu kümmern.", antwortete er mir und ging.
Ich blieb sprachlos im Klassenraum zurück. Niemals hätte ich Paul Deyer für den Typ Mensch gehalten, der zuhause blieb um sich um seine kleinen Schwester zu kümmern. Ich hatte noch nicht mal gewusst, dass Paul eine Schwester hatte. Oder eine Familie. Ich wusste gar nichts über ihn und diese Erkenntnis ernüchterte mich ziemlich.
Das folgende Wochenende war angenehmer als ich erwartet hatte, sogar von Ava Twigley blieb ich verschont. Sie war mit ihren Eltern übers Wochenende nach Palm Beach gefahren war, was sie in einer sehr bedauerlich klingenden SMS geschrieben hatte.
Dafür verbrachte ich den Samstagabend und gesamten Sonntag mit Jade in unserem Haus. Sie erzählte mir davon, dass Lucy und Aaron auf der Party miteinander rumgemacht hatten. Allerdings schien sie das nicht besonders traurig oder wütend zu stimmen. Stattdessen erzählte sie mir von ihrer Heimfahrt mit Todd Spring. "Du glaubst nicht wie freundlich und lieb dieser Typ ist.", erzählte Jade mit strahlenden Augen. "Er hat mich bis vor die Haustür gebracht und mir sogar angeboten, zu helfen, falls ich durch ein Fenster in mein Zimmer klettern muss. Ich habe ihm gesagt, dass das nicht nötig ist, weil meine Eltern schon geschlafen haben und ich einen Schlüssel dabeihatte. Da hat er mich ganz süß angelächelt, mir eine gute Nacht gewünscht und sogar gewartet bis ich im Haus war, bevor er losgefahren ist.", schwärmte sie mit strahlenden Augen. Ich musste lächeln, es war schön zu sehen, dass meine beste Freundin ausnahmsweise mal an einen wirklich guten Typen gelangt war. Dafür hatte sie normalerweise kein besonders gutes Händchen.
Auch ich erzählte ihr von der Party. Von dem was im Badezimmer passiert war. Jade bekam sich nicht mehr ein. Sie stieß andauernd kleine Schreie aus und grinste mich an. "Ich habe es doch gesagt!", quiekte sie und hüpfte auf meinem Bett auf und ab. "Da bahnt sich etwas an zwischen euch, aber sowas von." Ich wollte gerade erwidern, dass sich da absolut nichts anbahnte, als es an meiner Zimmertür klopfte. Mein Dad steckte den Kopf herein. "Hallo, ihr beiden. Ich wollte dir, Luke, nur sagen, dass Jamie mir gerade geschrieben hat. Er hat ein Spiel nächstes Wochenende und würde sich freuen, wenn du kommst.", er lächelte leicht, doch er wusste wie meine Antwort lauten würde. Ich ging nicht gerne zu den Spielen meines Bruders. Wir standen uns nicht besonders nahe und es war immer seltsam zu sehen, wie er an der Uni sein Leben lebte, dass so gar nichts mit dem von Dad und mir gemeinsam hatte. Ich war eifersüchtig geworden, auf das neue Leben, dass Jamie sich aufgebaut hatte, weil ich das nicht konnte. Wir hatten uns damals eine Menge Sachen an den Kopf geworfen und seitdem war unser Kontakt größtenteils abgebrochen. Also schüttelte ich meinen Kopf. Mein Vater nickte traurig und ging wieder hinaus. Sofort breitete sich ein schlechtes Gewissen in mir aus. Ich wusste wie sehr Dad es sich wünschte, dass wir wieder miteinander redeten, doch ich brachte es nicht über mich.
Als ich mich wieder Jade zuwandte hatte sie diesen mitleidigen Gesichtsausdruck, den sie immer bekam, wenn es um meinen Bruder ging. Auch Sandy hatte sehr oft versucht mit mir über Jamie zu reden doch ich hatte immer wieder abgeblockt. Ich sah Jade bittend an. Ich wollte jetzt wirklich nicht darüber reden. Sie kam meiner stummen Bitte nach und schlug vor einen Film anzugucken. Dankbar nahm ich ihr Angebot an.
Am Montagmorgen hielt ich unwillkürlich nach Paul Ausschau. Tatsächlich sah ich ihn an seinem Schließfach stehen, in ein intensives Gespräch mit Eric vertieft. Schnell ging ich mich in die entgegengesetzte Richtung, bevor sie mich entdeckten. Die erste Stunde hatten wir heute bei Mr. Conner, unserem Englischlehrer. Er hatte es geschafft einen bekannten Schriftsteller an unsere Schule zu holen. Dieser sollte uns aus seinen Gedichten vorlesen, um sie anschließend mit uns zu analysieren und Fragen von uns zu beantworten. Ich kannte den Schriftsteller und freute mich ihn kennenzulernen.
Wie üblich kam Paul zu spät. Er brachte den Geruch von Zigarettenrauch und eine gemurmelte Entschuldigung in unser Klassenzimmer. Mr. Conner verdrehte zwar die Augen, sagte allerdings nichts weiter dazu. Der Schriftsteller stellte sich vor die Klasse und begann zu lesen.
Zunächst nahm ich es gar nicht so war, doch langsam verstand ich die Worte, die er dort vorlas. Und jedes einzelne war wie ein Messerstich. Ich sah wieder alles vor mir. Ihre Hände die die Seiten umblätterten. Ihre Stimme. Der Kuss auf meine Stirn.
Plötzlich fand ich mich stehend, mitten im Klassenraum. Ich musste hier raus. Halb blind stolperte ich aus der Tür in den Gang. Ich brauchte frische Luft. Verschwommen hörte ich den Ruf meines Lehrers hinter mir. Eine andere Stimme, die antwortete. Ich fand den Ausgang und drückte die Tür auf. Regen prasselte auf mich nieder. Ich sah ihr Lächeln. Wie sie aufstand und die Tür hinter sich schloss. Immer weiter entfernte ich mich von der Schule. Lief einfach weiter. So weit weg wie ich konnte.
Plötzlich hörte das Quietschen von Reifen, zwei Hände packten mich und rissen mich zurück. Ich erwachte aus meinem Dämmerzustand. Das Auto, das mich fast überfahren hatte, fuhr weiter während der Fahrer wüste Flüche aus dem offenen Fenster schrie. Ich sah mich um und blickte direkt in Pauls grüne Augen. Er hielt mich noch immer an den Schultern fest. Langsam löste ich mich aus seinem Griff und er trat einen Schritt zurück. "Danke.", war alles was ich sagen konnte. Paul nickte nur. "Was war los?", fragte er. "Ich habe nicht gemerkt, dass ich schon an der Straße war.", antwortete ich, doch Paul schüttelte den Kopf. "Ich meine, warum bist du überhaupt rausgerannt?" Sofort versteifte ich mich. Die Einzige mit der ich über so etwas redete war Jade und noch nicht mal ihr erzählte ich alles. "Das ist nicht so wichtig.", sagte ich leise. Paul schnaubte. "Doch ist es, verdammt noch mal. Ich musste dich gerade vor einem fahrenden Auto retten und ich wüsste gerne warum.", sagte er und sein Blick war genau der gleiche wie auf der Party. Als wüsste er genau was in mir vorging, würde es aber von mir hören wollen. Das machte mich wütend. Ich konnte es nicht leiden, wenn Leute glaubten, dass sie wüssten was ich fühlte oder sie hätten irgendein blödes Recht darauf es zu erfahren. "Es geht dich aber nichts an, okay? Kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen?", fragte ich, fast schon flehentlich. Ich wollte einfach alleingelassen werden. "Nein.", sagte Paul schlicht und ging einen Schritt auf mich zu. Augenblicklich wich ich zurück. "Was ich Donnerstag gesagt habe, meinte ich auch so. Ich bin mir sicher, dass du mich verstehen würdest, wenn ich dir meine Geschichte erzähle und genauso bin ich mir sicher, dass ich deine verstehe.", sagte er mit dunkler Stimme. Er stand jetzt direkt vor mir. Ich zitterte. Ich wusste nicht ob es am Regen lag oder an seiner Nähe. Ich wusste nur, dass etwas von mir, ein winzig kleiner Teil, Paul alles erzählen wollte. Weil dieser Teil wusste, dass er mich verstehen würde. Doch der Rest von mir war von Unsicherheit getrieben. Ich hatte noch nie jemandem, außer meinem Therapeuten Einzelheiten über die Zeit nach Mom's Tod erzählt. Oder von meinen Gefühlen geredet. Doch jetzt stand hier ein Junge, den ich kaum kannte, vor mir und schien etwas in mir zu sehen, dass ich selbst noch nicht entdeckt hatte und das machte mir Angst.
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All Of Me
RomancePaul Deyer. Wie beschreibt man Paul Deyer? Als Bad Boy? Als gefährlich? Als abgefuckt? Als Einzelgänger? Letztendlich ist Paul Deyer das genaue Gegenteil von Luke. Luke hat gute Noten, eine Clique von treuen Freunden und eine Faszination für den geh...