Kapitel 6

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Ich wusste nicht wie ich hier gelandet war. Aber ich saß neben Paul Deyer in meinem Wagen und wir fuhren weg, um Schule zu schwänzen. Eine Aufregung machte sich in mir breit. So etwas hatte ich noch nie getan, aber irgendwie fühlte es sich gut an. Paul saß auf dem Beifahrersitz und dirigierte mich in die richtige Richtung. Währenddessen verband Paul sein Handy mit der Anlage und Nirvana dröhnte aus den Lautsprechern. Ich erschrak. Paul lachte. Ich hatte ihn noch nie so lachen hören. Das war kein spöttisches oder betrunkenes Lachen, sondern einfach fröhlich. Es hörte sich wunderbar an. "Zum Schwänzen gehört der richtige Sound. Zum ganzen Leben gehört der richtige Sound.", sagte Paul und sah aus dem Fenster. Ich drehte die Musik herunter. "Magst du Musik?", es war irgendwie ganz einfach geworden ihm eine Frage zu stellen. "Ich liebe Musik. Es gab schon Tage an denen ich das Gefühl, dass die Musik das einzig wirkliche auf dieser Welt ist.", sein Blick war nachdenklich geworden. "Wenn ich meine Musik höre, dann zählt nichts um mich herum. Es gibt keine Probleme mehr. Ich tauche dann einfach in eine andere Welt ab." "Ich schätze bei mir sind das Bücher, was für dich Musik ist. Es hat nichts mit meinem Leben zu tun, das sind einfach die Gefühle von anderen, die Probleme von anderen. Und am Ende gibt es immer ein Happy End. Zumindest in den Büchern, die ich lese.", die Worte kamen einfach aus meinem Mund ohne, dass ich groß nachgedacht hätte. "Was denn für Bücher? Fantasy oder Krimi?", fragte Paul und wandte seinen Blick vom Fenster ab. "Vor allem Fantasy.", sagte ich begeisterter als ich wollte. "Oder Bücher in denen es um Dystopien geht." Paul sah mich fragend von der Seite an. "Dystopien sind fiktive Gesellschaftsformen, aber eben solche die pessimistisch und negativ beschrieben werden.", erklärte ich. Der Junge neben mir schüttelte leicht den Kopf. "Was ist?", fragte ich unsicher. "Ist das nicht ein wenig düster?", murmelte er. Ich zuckte mit den Schultern. „Wie gesagt, es sind die Probleme von anderen. In gewisser Weise merke ich somit, wie gut ich es habe.", antwortete ich mit leichtem Lächeln. Daraufhin schwieg Paul so lange, bis er mir sagte, dass ich bei der nächsten Ausfahrt raus müsse.

Wir hielten in der Nähe eines Flusses. An dessen Seite gab es einen Wanderweg, der sich durch Felsen und Bäume schlängelte. Die einzelnen Sonnenstrahlen die durch die graue Wolkendecke brachen und das Wasser glitzern ließen, machten diesen Ort beinahe idyllisch. Der Regen hatte aufgehört, außerdem trugen wir inzwischen Jacken und waren durch die Heizung in meinem Auto wieder getrocknet. "Mir war gar nicht bewusst, dass der düstere Paul Deyer solche Orte kennt.", sagte ich theatralisch als wir ausstiegen. Er zuckte nur mit den Schultern. "Meine Mom ist früher öfter mit uns hierhergefahren." Seine Stimme klang traurig und obwohl ich es unbedingt wollte, fragte ich nicht weiter nach.

Langsam machten wir uns auf den Weg zwischen die Bäume. Die Stille war angenehm und lediglich das Rauschen des Flusses war zu hören. "Willst du mir erzählen was heute passiert ist?", fing Paul nach einer Weile das Gespräch an. Automatisch machte ich mich steif und wollte schon "Nein", sagen doch plötzlich wurde mir klar, dass das nicht stimmte. Ich wollte es Paul erzählen, aber ich war ebenso froh, dass er mich nicht drängte. Keine Ahnung, warum ich mich ihm anvertrauen wollte. Aber ich beschloss diesem Gefühl nachzugeben.

"Es war wegen dem Gedicht, dass dieser Typ vorgelesen hat. Es...", ich stockte kurz. "Es war das Gedicht, dass meine Mom mir vorlesen hat, an dem Abend, an dem sie gestorben ist." Kaum waren die Worte aus mir heraus, fühlte sich es an als würde sich die Schlinge, die sich um meine Brust gewickelt hatte, ein wenig lockern. Paul schwieg einen Moment. "Ich verstehe wieso du es dort nicht ausgehalten hast.", sagte er schließlich. Ich schluckte. "Ja, meine Mutter hat Gedichte geliebt, ganz im Gegensatz zu mir. Aber ich habe es geliebt ihre Stimme zu hören. Wenn sie mir vorgelesen hat, wurde ich immer ruhig. Als ich noch jünger war gab es Nächte, in denen ich nicht schlafen konnte, weil ich solche Angst vor der Dunkelheit hatte, aber sobald sie mir etwas vorsang oder vorlas schlief ich sofort ein." Mit den Worten kamen auch eine Menge Erinnerungen zurück. Erinnerungen, von denen ich geglaubt hatte, sie längst zurückgedrängt zu haben. Ein Kloß bildete sich in meiner Kehle. Schnell räusperte ich mich. "Also, an diesem Abend hat sie mir wieder ihr Lieblingsgedicht vorgelesen. Danach wollte sie noch ein Bad nehmen. Sie hat mir noch einen Kuss gegeben, ist aufgestanden und rausgegangen. Ich bin eingeschlafen, bin aber später in der Nacht noch einmal aufgewacht. Ich habe nach ihr gerufen und als sie nach einer Weile immer noch nicht antwortete bin ich aufgestanden. Zuerst bin ich ins Schlafzimmer gegangen, doch da war sie nicht. Also bin ich zum Badezimmer gelaufen und habe die Tür aufgemacht...", bei den letzten Worten versagte meine Stimme. Völlig unvermittelt griff Paul nach meiner Hand. Wir blieben stehen. Zitternd holte ich Luft. Ich hatte die Tränen, die meine Wange hinunterliefen nicht bemerkt. "Zuerst habe ich sie nicht gesehen. Ich habe immer wieder nach ihr gerufen, bin zur Badewanne gegangen. Sie lag unter Wasser. Ich griff nach ihrer Schulter und rüttelte daran. Natürlich dachte ich sie wäre nur kurz untergetaucht, aber sie hat sich einfach nicht bewegt. Dad war an diesem Abend nicht da, also bin ich zu meinem Bruder ins Zimmer gelaufen und habe geschrien. Ich weiß nicht mehr was es war. Ich weiß auch nicht wie Jamie es geschafft hat Dad und die Polizei anzurufen. Vielleicht ist er nur für mich so ruhig geblieben. Ich wusste nicht was ich tun sollte, ich verstand nicht was passiert war. Aber ich weiß noch ganz genau wie sie den Leichensack an mir vorbeigeschoben haben. Ich bin zu Dad gerannt. Er saß einfach da, ich hatte ihn davor noch nie so gesehen. Es sah aus als hätte jemand sein Inneres in zwei gebrochen. Ich habe ihn gefragt was mit Mom passiert war, immer wieder. Und er hat gesagt, dass sie tot ist. Selbst in diesem Moment konnte ich es nicht realisieren. Ich glaube ich habe es auch nicht realisiert als wir vor dem Sarg standen. Vielleicht habe ich es bis heute nicht realisiert...", meine Stimme war brüchig und ich sah die ganze Zeit auf Pauls und meine verschränkten Hände. Ich konnte ihm nicht in die Augen sehen. "Woran...", Pauls Stimme war belegt und er räusperte sich um noch mal von vorne anzufangen. "Woran ist deine Mutter denn gestorben?" "In ihrer Familie waren Herzkrankheiten keine Seltenheit. Sie hatte einen Herzstillstand in der Badewanne und ist ertrunken." Ich sah genau die Gesichter der Polizisten vor mir, wie sie uns alles erklärten. Die Psychologin, die mit beruhigenden Worten auf meinen Bruder und mich einredeten. Jamies der mich mit vollkommen leeren Augen an sich drückte.

Plötzlich fühlte ich eine warme Hand an meiner Wange. Paul wischte ein paar meiner Tränen weg. Ich sah ihn an. Sein Blick war mitfühlend, aber nicht mitleidig. Er schien so viel Verständnis für mich zu haben. Es war erleichternd, dass alles jemandem erzählt zu haben. Die Schlinge um meine Brust schien sich weiter geöffnet zu haben. Trotzdem trat ich einen Schritt zurück. Ich musste meine Gefühle ordnen und in Pauls unmittelbarer Nähe, schien das unmöglich zu sein. "Es tut mir leid, Luke. Dass du all das durchmachen musstest, das hast du nicht verdient.", sagte Paul und sein intensiver Blick traf mich. "Danke, aber ich schätze niemand sollte das durchmachen müssen.", antwortete ich. Wir drehten uns um und machten uns wieder auf den Rückweg. "Hast du schon einmal jemandem so davon erzählt wie mir gerade?", fragte Paul nach kurzem Zögern. Ich schüttelte den Kopf. "Warum?" Darüber musste ich einen Moment nachdenken, beziehungsweise darüber wie ich es ausdrücken konnte. "Ich hatte Angst vor der Reaktion. Angst davor, dass die Leute mich danach anders behandeln würden, als davor. Andererseits dachte ich auch nie, dass es besonders wichtig wäre oder, dass es jemanden interessiert. Denn wenn mich jemand um meiner selbst willen mag, warum sollte ich ihn dazu bringen mich lediglich nur noch zu bemitleiden?", erklärte ich. "Wieso hast du es dann mir erzählt?", fragte Paul. Ich spürte, dass meine Antwort auf diese Frage wichtig für ihn war. "Du hast dich dafür interessiert und bemitleidest mich nicht.", sagte ich schlicht und so meinte ich es auch. Schweigend gingen wir weiter, bis wir das Auto erreichten.

Als ich losfuhr wandte Paul sich mir zu. "Du bist ein besonderer Mensch, Luke Milton, und ich glaube das wird dir viel zu selten bewusst gemacht." Seine Worte überraschten mich und sofort wurde mein Gesicht warm, was Paul zum Lachen brachte und er sah wieder aus dem Fenster. Weil mir nichts anderes einfiel, sagte ich das erste was mir in den Sinn kam. "Du nennst mich nicht mehr Kleiner." "Stimmt, aber wenn du willst kann ich wieder damit anfangen.", sagte Paul und ich konnte hören, dass er schelmisch grinste. "Bloß nicht!", wehrte ich ab. "Wieso? Ist doch ein netter Spitzname.", gab Paul zurück. "Aber absolut nicht zu treffend. Ich bin nicht klein.", beschwerte ich mich. "Du bist aber kleiner als ich." "Höchstens ein paar Zentimeter.", murrte ich. Wir beide lachten. Es war ein sehr befreiendes Lachen. "Ich habe dich noch nie lachen hören.", sagte Paul, als wir wieder aufgehört hatten. "Wirklich?", fragte ich überrascht. Eigentlich hätte ich von mir selbst nicht gedacht, dass ich ein Mensch war, der so selten lachte. "Ja, eigentlich guckst du meistens wie ein verschrecktes Reh. Ein wenig verängstigt.", erklärte mir Paul. "Also, wenn, dann liegt das nur an dir. Normalerweise bin ich ein sehr selbstbewusster Mensch.", behauptete ich. "Soll das etwa heißen, dass ich dir Angst mache?", fragte Paul. "Nun ja, von außen wirkst du nicht gerade wie ein besonders einfühlsamer Typ.", sagte ich und bog in die Straße unserer Schule. Paul musste noch seine Sachen aus seinem Spind nehmen und ich wusste außerdem nicht wo er wohnte. Es kam mir auch seltsam vor ihn danach zu fragen. Theatralisch legte sich Paul die Hand aufs Herz. "Es schockt mich zwar, dass du mich für einen Angst einflösenden Menschen hältst, doch ich vergebe dir.", sagte er und stieg aus. Ich musste den gesamten Heimweg lang lächeln.

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