Die Gestalt hockte die ganze Zeit schweigend und besorgt blickend neben ihm.
Die Gestalt ... John, der sich langsam ein wenig beruhigte, beschloss, die Erscheinung allen inneren Widerständen und äußeren Umständen zum Trotz einfach „Sherlock" zu nennen, auch wenn er sich darüber im klaren war, dass das sein Problem nicht unbedingt besser machte. Es wäre sicher wesentlich gesünder, wenn es ihm gelänge loszulassen. Aber schließlich ist der Mensch kein Automat, und es gibt keinen Knopf, mit dem man unerwünschte seelische Probleme einfach ausschalten kann.
Er hatte nun ein mal diese Halluzination und musste jetzt irgendwie versuchen, damit umzugehen.
John atmete langsam tief durch und rieb sich über das tränenfeuchte Gesicht.
Langsam rappelte er sich auf. Die Gest ... "Sherlock" erhob sich ebenfalls.
„Ich... ich mache uns einen Tee, ja?", sagte John.
Sherlock nickte.
Also ging John unsicher in die Küche hinüber und nahm eine Tasse aus dem Schrank und nach kurzem zögern dann auch Sherlocks Lieblingstasse. Er nahm zwei Teebeutel aus dem Schubfach und goss, nachdem der Kessel auf dem Herd gepfiffen hatte, beide auf.
Vielleicht, so dachte er sich, würde sein Verstand begreifen, dass es Sherlock nicht mehr gab, wenn er später die zweite Tasse noch unangetastet hier auf dem Tisch stehen sehen würde. Vielleicht sollte er sich auch noch ein Sandwich machen? Ja, das war eine gute Idee.
Als nahm er Weißbrot aus dem Schrank, Schinken, Tomaten Sandwichcreme aus dem Kühlschrank und begann, Sandwiches zuzubereiten, so wie es Sherlock immer am liebsten gemocht hatte. Wenn er den überhaupt mal was gegessen hatte. Und während er zwei belegte Brote vorbereitete, eines für sich und eines für „Sherlock", merkte er, dass er richtig Hunger hatte. Wann hatte er das letzte Mal mit Appetit eine Mahlzeit verspeist? Nun, genau genommen, vor Sherlocks Tod.
Er setzte sich an den Küchentisch und begann zu essen. Und während dessen hing er nun wieder seinen Gedanken nach und versuchte einen Weg zu finden, mit der Situation umzugehen. Er war so tief in sich selbst versunken, dass er nicht mehr auf seine Umwelt achtete.
Als er einige Zeit später wieder zu sich kam, saß „Sherlock" ihm gegenüber.
John ließ den Blick über den Tisch schweifen und musste zu seiner größten Verblüffung feststellen, dass sowohl die zweite Teetasse leer als auch das zweite Sandwich verschwunden war.
Er jappste erschrocken und versuchte, zu begreifen, was geschehen war.
Scheinbar war sein Geisteszustand schlimmer, als befürchtet. Nicht nur dass er seinen verstorbenen Mitbewohner halluzinierte. Nun schien er auch noch selber unbewusst Handlungen durchzuführen, die ihm selber vorgaukeln sollten, dass besagter Mitbewohner tatsächlich hier bei ihm war. Das nahm nun eindeutig sehr bedenkliche Züge an.
Erneut ging John ins Wohnzimmer und schnappte sich sein Laptop. Wieder recherchierte er im Internet zum Thema Trauerpsychologie.
Und ja, es gab anscheinend, wissenschaftlich belegt, solche Fälle, wo der Patient (John hasste es, von sich selbst als dem Patienten zu denken, aber es war wohl an der Zeit, sich den Tatsachen zu stellen...) sich so sehr in den Wunsch hineinsteigerte, der Verstorbene sei noch am Leben, dass er selber Handlungen ausführte, die vorgeblich der geliebte Mensch ausgeführt haben solle, um sich selbst vorzumachen, er wäre noch da; und auch dass der Patient sich in solchen Fällen selber nicht erinnerte, die Handlungen begangen zu haben war wohl kein seltenes Phänomen.
John seufzte.
„Sherlock" saß ihm wieder gegenüber und sah ihn fragend an.
Nun, es gab wohl keinen Zweifel mehr. John war offensichtlich von seiner Trauer so überwältigt, dass eine Psyche Schaden genommen hatte. Es führte kein Weg mehr daran vorbei. Er brauchte professionelle Hilfe.
Vielleicht sollte er sich an Mycroft wenden? Sosehr er auf den auch immer noch wütend und sauer war. Aber Mycroft würde sicherlich nicht zögern, ihm einen guten Therapeuten zu besorgen. Und jemand, den Mycroft empfahl, würde auf jeden Fall erstens sein Handwerk verstehen und ihm tatsächlich helfen können und zweitens diskret sein. Da konnte man sicher sein.
Gut, also Mycroft.
Er würde sich an ihn wenden.
Ja, er würde es tun.
Aber...
nicht jetzt.
John war nicht dumm, und ihm war schon klar, dass all das, was er vorschob, um diesen Schritt nicht jetzt zu gehen, nichts weiter waren als Ausreden um das Unvermeidliche hinauszuzögern. Aber er hatte nicht die Kraft, dagegen anzugehen. So viel war geschehen, er fühlte sich ausgebrannt und ausgelaugt und hatte nicht die Energie, all die notwendigen Schritte einzuleiten.
Außerdem wurde ausgerechnet jetzt so viel von ihm verlangt.
Alle Welt erwartete, dass er Moriarty zur Strecke bringen würde.
Man sah zu ihm auf, man erhoffte sich so viel von ihm. Und er würde diese Erwartungen kaum erfüllen können, wenn er in einer anstrengenden Psychotherapie steckte ...
„Wirklich, John?", ertönte eine Stimme in seinem Kopf. Erschrocken blickte er auf. Sie klang so sehr nach Sherlock.
Doch nein, „Sherlock" saß nach wie vor schweigend da. Mit diesem Lächeln, der Mund gespitzt, die Augen am blitzen, dieses Lächeln, das er immer nur für ihn, John, gehabt hatte.
Aber er schwieg.
Die Stimme ertönte einfach nur in Johns Kopf.
„Du bist ein Idiot John. Du solltest dich zuerst um deine Gesundheit kümmern."
Ja, nun war klar, dass diese Stimme nur imaginär war, denn Sherlock, der manchmal tagelang nichts gegessen und nicht geschlafen hatte, um, wie er sagte, besser denken zu können, würde so etwas nicht sagen.
John konnte nicht anders, als zu schmunzeln.
„Nun gut", sagte John, „Ich habe eine Aufgabe zu erfüllen. Und wo du nun schon einmal da bist ..."
und er nickte der „Sherlock"- Halluzination zu, „ ... kannst du mir genau so gut helfen."
„Sherlock" strahlte und nickte.
„Also", sagte John, „wir haben einen Verbrecher zu fangen. Und ich denke, ich werde für dich .... nun für mich ... einfach einmal alles rekapitulieren, was ich herausgefunden habe. Das wird sicherlich helfen, alle Fakten zu ordnen."
Das Trugbild sah ihn begeistert an.
„Also ...", und John begann zu reden.
Er redete und redete und schaute alles durch, was er auf seinem Laptop gespeichert hatte.
Und es fühlte sich erstaunlich gut an, „Sherlock" bei sich zu haben.
Er wusste, dass das eigentlich nicht so sein sollte.
Aber dennoch.
Die Anwesenheit von „Sherlock" gab ihm Sicherheit. Geborgenheit.
Und er fühlte sich seit langem wieder in der Baker Street zu Hause.
DU LIEST GERADE
Du musst weitermachen, John!
FanfictionDass Sherlock vom Dach des St. Bart's gesprungen ist, hat John Watson in seinen Grundfesten erschüttert. Er versucht, die Trauer zu bewältigen. Doch es fällt ihm schwer. Auch deswegen, weil wichtige Dinge ungesagt geblieben sind. Als es sich dann au...