Ein Ende, ein Anfang

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Da stand sie nun also am Rande des Daches und schaute nach unten. Ihr Haar flatterte im Wind und ihr Gesicht zeigte nichts als Ausdruckslosigkeit.
„Spring!", sagte Sherlock mit Kälte in seiner Stimme.
John schauderte. Das war nicht der Sherlock, den er kannte, und doch ...

Sie hatten vorher lange darüber gestritten. Hatten diskutiert und John hatte seinen Standpunkt hartnäckig verteidigt.
Ein Menschenleben hinzuwerfen, nein, das war nichts, womit er sich mal eben schnell einverstanden erklärte. Er war Arzt, verdammt noch mal.
Klar, das hier war Moriarty, die Frau, die schon so viele andere Menschenleben genommen hatte. Die soviel unsagbares Leid verursacht hatte. Die Frau, die so viele Verbrechen begangen hatte.

Man konnte sie einsperren, ja. Doch was dann? Ihre Fähigkeit zur Manipulation war hinlänglich bekannt. Und wenn ihr nichts mehr blieb, keine Möglichkeit mehr, nach außen zu wirken und Fäden zu ziehen, zu erpressen, zu bedrohen ... dann würde sie ihre Kerkermeister bezirzen wie einst Lady de Winter und so am Ende doch wieder entkommen.
Und Sherlock war nicht bereit, dieses Risiko einzugehen.
Also hatte John, nach langem Sträuben, schließlich zugestimmt.
Es blieb nur ein Weg: Moriartys Tot.

Sherlock war auch nicht glücklich mit alle dem. Moriarty musste sterben, da führte kein Weg drumherum. Aber er sorgte sich, was das mit ihm und John machen würde.
John war ein so gutherziger Mensch, und er war Arzt, weil er Leben retten wollte, nicht Leben nehmen. Es war nicht leicht gewesen, seine Zustimmung zu bekommen, und Sherlock war sich im klaren darüber, dass er ihn nicht wirklich überzeugt hatte. Von der Notwendigkeit vielleicht, aber nicht von der Richtigkeit.

Würde Mollys Tod der gerade wachsenden Liebe zwischen ihm und John einen Riss zufügen?
Würde Molly auf diese Weise selbst im Tod noch ihm, Sherlock, und seinem John Schaden zufügen und auf diese Weise gewissermaßen triumphieren?
Nun das würde man abwarten müssen.
Aber immerhin war John nicht nur Arzt, sondern auch Soldat, er hatte den Krieg bereits mit eigenen Augen gesehen, am eigenen Leibe gefühlt.
Und er würde erkennen, dass auch das hier in gewisser Weise Krieg war.
Sherlock konnte nur das Beste hoffen.

„Spring", sagte er wieder.
Molly Moriarty drehte sich zu ihm und sah ihn an.

„Ich verlasse mich auf dein Wort", sagte sie.
„Das kannst du", sagte Sherlock."
„Ich weiß."
Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

„Was wirst du tun ohne mich?"
Sherlock zog die Stirn kraus. „Was meinst du?"
„Wenn du keine Gegner mehr hast, der deiner würdig ist, was wirst du dann tun?"
Sherlock lachte.
„Keine Sorge, Molly. Ich komme schon zurecht. Es gibt vielleicht keinen so genialen Verbrecher wie dich, aber es gibt dennoch genug, damit ich mich nicht langweile."

Einen Augenblick sagte niemand etwas.
Dann verdrehte Sherlock die Augen.
„Nun spring schon. Mach dem ein Ende Molly. Du hast mein Wort, dass dein Ruf als König der Verbrecher gewahrt bleiben wird. Aber geh nun mit Anstand. Los!"

Molly nickte.
Das war es dann wohl.
Sie nahm einen letzten Atemzug. Die Luft war kühl und feucht, sie schnitt ihr in die Lungen. Der Geruch der Stadt London, etwas, was sie immer gemocht hatte, würde das letzte sein, was sie fühlte, bevor sie auf dem Pflaster aufschlug.

Und dann sprang sie.

* * *

Sherlock und John standen Hand im Hand auf dem Dach. Der Wind, der hier oben herrschte, zerrte an ihnen.
„Oh Gott", sagte John, und sein Hals war ihm trocken.
„Das war es dann", sagte Sherlock.
Er ergriff Johns Hand.
„Ja, das war es", sagte John leise.

Sherlock wandte den Blick zu John.
Seine Augen blieben an Johns Lippen hängen, er selber leckte sich über seine Lippen.
John wurde von Sherlocks Mund magisch angezogen.
Die seltsame, ungewöhnliche, schmerzhafte und doch gleichzeitig befreiende Emotionalität der Situation drängte ihn dazu, seine Lippen mit Sherlocks zu vereinigen ...

Doch dann schüttelte er den Kopf.
Sherlock seufzte.
„Nicht der richtige Moment für einen Kuss, oder?"
„Nein, Sherlock."
„Du hast recht. Lass und ihr ein klein wenig Ehre erweisen."

Sie standen einfach nur da, Hand in Hand.
„Ja", sagte John.
„Sie war ... groß. Auf ihre Weise."
Sherlock nickte.
„Sie war genial. Nun, nicht so genial wie ich, aber das ist niemand. Und ja, sie war grausam, eiskalt, brutal ... doch sie war genial."
Und nach einer Weile:
„Sie hat recht. So froh ich bin, dass sie niemanden mehr quälen wird ... ich werde sie ein wenig vermissen."

Langsam wandten sich die beiden Männer dem Treppenaufgang zu.
Sie gingen Hand in Hand.

Was hier geschehen war, war ein Ende gewesen.
Das Ende einer Ära.

Doch nun ... das was jetzt begann, war ihre Zeit.
Ihre Ära.
Ihr gemeinsames Leben.

Und es fing gerade erst an.

Du musst weitermachen, John!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt