Verzweiflung, Erkenntnis, Erlösung - in einem einzigen Augenblick

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„Nein", brüllte John, denn eigentlich wollte er niemanden sehen.
„John, ich komme jetzt rein!" Lestrade ließ nicht locker. Ach verdammt.
John hörte wie die Tür sich öffnete und Schritte in den Raum traten. Er hatte sein Gesicht in das Kissen gekuschelt. Er wollte mit niemandem reden, nicht mit Lestrade oder sonst wem. Er wollte lieber allein sein. Allein mit seinem Hirngespinst.

Und dann ...
Die Schritte stockten und irgendetwas fiel zu Boden.
Ein Schrei ertönte.

„Sherlock!"
Johns Kopf fuhr hoch. Mit weit aufgerissenen Augen sah er in das fassungslose Gesicht Lestrades.
Der wurde von Sekunde zu Sekunde blasser und begann zu stottern:
„Sherlock? Verdammt Sherlock, sind Sie das wirklich?"

Johns Blick wanderte von Lestrade zu „Sherlock" und wieder zu Lestrade.
Er versuchte zu begreifen, was hier gerade geschah.
Es gelang ihm nur rudimentär.

Es herrschte fassungsloses Schweigen, bis John schließlich atemlos ausstieß:
„Lestrade, Sie ... sehen ihn auch ... ??!!"
Lestrade war dabei, den Raum in schnellen Schritten zu durchqueren. Als er beim Sessel anlangte, riss er „Sherlock" - ... Sherlock auf die Beine und zog ihn in eine knochenbrecherische Umarmung.
„Sie verdammter Bastard!", schimpfte er. „Oh Sie verdammter Bastard! Ich sollte Ihnen statt dessen die Nase brechen!"

„Aber ... aber ...", stotterte John. Und dann kam, zum zweiten Mal an diesem Tag, der Augenblick, wo sein Geist nicht mehr weiter konnte und ihm schwanden die Sinne.

Als er wieder zu sich kam, war er aufs Sofa gebettet. Lestrade saß auf dem Sessel ihm gegenüber, noch immer Fassungslosigkeit im Blick, und hielt ein Glas einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit in den Händen, die leicht zitterten.
Sherlock jedoch ... John war sich noch immer nicht genau im klaren, ob es sich um Sherlock oder „Sherlock" handelte ... kniete auf dem Boden vor dem Sofa und hielt Johns Hände.

„Gregory", flüsterte John mit verzweifeltem Blick auf den Polizisten.
„Ist das wirklich Sherlock? Ist er hier? Sehen Sie ihn auch?"
Lestrade nickte. „Ja. Es ist kaum zu glauben, aber das ist er."
„Aber ... ich hab gedacht, ich werde langsam verrückt ... hab gedacht, er ist nur in meinem Kopf, und ich bilde ihn mir nur ein ..."

„Oh John!"
Zum ersten mal seit langen ertönte Sherlocks Stimme tief und voll, so wie er sie von früher kannte.
„John, es tut mir so leid! Das war mir nicht klar!"
„Aber ... Sherlock ... Du warst einfach da ... und hast nie ein Wort gesprochen ... na ja, bis auf die geflüsterten Worte vor ein paar Stunden, aber ... ich glaubte, auch die nur in meinem Kopf gehört zu haben!"
„Es tut mir leid, John", sagte Sherlock noch einmal und sah John mit einem solchen Ausdruck von Sorge und Zuneigung an, dass dem ganz warm ums Herz wurde.

Doch gleichzeitig kam auch die Wut.
Er schob Sherlock von sich.
„Ich will eine Erklärung", sagte er. „Monatelang habe ich geglaubt, du bist tot. Ich habe gelitten wie ein Hund. Und dann tauchst du hier einfach auf, lässt mich in dem Glauben, nur eine Ausgeburt meines Gehirns zu sein ... okay, schon gut, das hast du vielleicht nicht gewusst. Aber ... verdammt ... dennoch ... ich habe so lange geglaubt, du seist tot! Und als du hier bei mir warst, wieso hast du nicht mit mir gesprochen?! Herr Gott, Sherlock, ich habe geglaubt, ich werde langsam aber sicher völlig verrückt!"

Tränen liefen über Johns Gesicht. Es waren Tränen der Verzweiflung, weil er einfach nicht verstand; Tränen der Freude, weil Sherlock wieder da war; Tränen der Wut, weil man ihm übel mitgespielt hatte.
„John, ich ..." Sherlock schien ein wenig ratlos. Eine Sache, die nicht wirklich oft geschah...

Lestrade stand auf.
„Ihr beide solltet in Ruhe reden. Und ich brauche auch ein paar Erklärungen, aber das hat Zeit. Erst einmal freue ich mich, dass Sie wieder da sind, Sie Schnösel."
Er leerte sein Glas und stellte es auf dem Tisch ab.
„Ach, noch etwas. Ihr Bruder - wusste der Bescheid?"
Sherlock bedachte ihn mit diesem 'Seien Sie doch kein Idiot!' Blick.
„Selbstredend!"
„Gut", sagte Lestrade. „Dann fahre ich jetzt in sein Büro und werde ihm seinen aristokratischen Hintern versohlen!"
Und er rauschte aus der Tür, die knallend hinter ihm ins Schloss fiel, und ließ Sherlock und John allein.

John setzte sich vorsichtig auf.
Er zitterte immer noch.
„Ich mache erst einmal einen frischen Tee", sagte Sherlock leise. John nickte. Tee, das Allheilmittel, wenn man Brite durch und durch war, so wie er.
Das gab ihm ein paar Minuten Zeit, sich selber ein wenig zu sortierten.
Also erst einmal die Fakten.
Die Kurzfassung von allem war wohl: Nicht tot.
Sherlock lebte und war hier bei ihm. Er war nicht beim Sprung vom Dach des Barts gestorben, und offensichtlich auch nicht, wie Molly geglaubt hatte, in Serbien.
So weit so gut.
Aber ... warum war er zurück zu John gekommen, und hatte kein einziges Wort, na ja fast keines, gesagt?
John verstand das alles nicht, aber so nach und nach wurde ihm erst mal eine Sache bewusst:

Er wurde nicht verrückt.
Wenn Sherlock kein Hirngespinst war, bedeutete das, dass all das, was er geglaubt hatte, sich nur einzubilden wirklich geschehen war: Sherlock war hier, Sherlock hatte den Tee, den er für ihn gebrüht hatte selber getrunken, die Sandwichs, die er für ihn gemacht hatte, selber gegessen.
Und das eine Mal, dass er in der Mitte der Nacht geglaubt hatte, Sherlocks Arme um sich zu spüren ... war dann wohl auch echt gewesen.
Das alles waren also keine Zeichen einer fehlgeleiteten Trauer gewesen sondern es war wirklich passiert.
Er, John Watson, wurde also nicht verrückt.

Tiefe Erleichterung durchfuhr ihn, und er konnte nun endlich lächeln.
Er lächelte Sherlock an, als der mit zwei dampfenden Tassen zurück in das Wohnzimmer kam.

Du musst weitermachen, John!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt