Vorweihnachtszeit in der Baker Street

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John gähnte. Es war noch früh am Morgen. Er blinzelte und schaute auf seinen Wecker. Heute war Freitag, der 13. Dezember, 06:24. Es war noch dunkel draußen und es schneite. Wenigstens etwas. John liebte weiße Weihnachten, und das Wetter sollte so bleiben. Sherlock war bereits genervt, weil dadurch die Verbrecher irgendwie (zumindest seiner Meinung nach) sentimental wurden und lieber Weihnachten feierten, als jemanden zu ermorden. Dadurch war der Consulting Detective mal wieder unausstehlich und lag die meiste Zeit in seinem Pyjama und seinem roten Morgenmantel auf dem Sofa, manchmal auch in seinem Sessel, und taxierte die Wand mit Schüssen (was Mrs. Hudson nervte) oder korrigierte das Fernsehen (was John irgendwann nervte). Trotzdem war es irgendwie gemütlich in der 221B Baker Street. John grinste, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und beschloss, noch eine Weile liegen zu bleiben. Die beruhigende Stille war nämlich meist von kurzer Dauer, denn...

ein Schuss. John stöhnte. War ja klar, dass Sherlock sein neuestes Waffenversteck schnell entdeckt hatte. John fand seine Idee, die Pistolen im Schirmständer zu verstecken, eigentlich originell. Aber wahrscheinlich hatten seine Hosentaschen oder seine Zahnbürste ihn irgendwie verraten, wie auch immer das möglich war.

Noch ein Schuss. Dann hörte der Doktor unten die Tür und kurz darauf stritten sich Mrs. Hudson und der Detektiv mal wieder. Entnervt schwang sich John schließlich aus dem Bett, zog seinen Morgenmantel an und ging runter ins Wohnzimmer, um den Streit zu schlichten.

Gerade als er reingehen wollte, kam ihm Mrs. Hudson entgegen und lief empört in ihre eigene Wohnung zurück. Er hörte sie nur noch schimpfen und dann, wie ihre Wohnungstür krachte. Seufzend schloss er die Tür hinter sich und ging ins Wohnzimmer. Was hatte er noch gerade gedacht? Dass es gemütlich sei? Er schüttelte den Kopf.

Sherlock saß in seinem Sessel, die Unterarme lässig auf die Lehne gelegt, den Kopf auf die Rückenlehne und die Augen geschlossen. Er atmete tief ein und aus. Die Pistole lag auf dem Boden, und John konnte die beiden frischen Löcher in der Wand sehen. Er holte tief Luft und baute sich vor Sherlock auf.

„Haben Sie eine Ahnung, wie viel Uhr es ist?! Mag ja sein, dass Ihr Gehirn durch die ganzen Nikotinpflaster leidet, aber -“

„Es ist 06:32, John. Warum regen Sie sich so auf? Das hat Mrs. Hudson schon getan.“ Der Detektiv hatte nur seine Lippen bewegt, noch nicht mal die Augen geöffnet. Über so viel Arroganz konnte John nur wütend schnauben. „Falls Sie es nicht bemerkt haben, und ich wette, Sie haben es bemerkt – ich hab noch geschlafen! So wie Mrs. Hudson wahrscheinlich. Also könnten Sie in Zukunft nicht mehr so früh gegen die Wand schießen?!“

Sherlock seufzte genervt. „Wann wäre es Ihnen denn Recht, dass ich gegen die Wand schieße?“

John schüttelte nur den Kopf, bemüht, seine Fassung zu bewahren. Er musste aufpassen, dass dies nicht zu einer Angewohnheit wurde. „Dieses Spiel spielen wir nicht, Sherlock. Hören Sie einfach auf gegen die Wand zu schießen.“ Er bückte sich und nahm die Pistole, ging in sein Schlafzimmer und suchte ein neues Versteck. Hier war es vielleicht besser, denn Sherlock war noch nie in seinem Schlafzimmer (hoffte John zumindest, da er ja nicht wusste, was der Detektiv während seiner Arbeitszeit machte). John lief hin und her, durchstöberte seine Sachen und legte die Pistole schließlich unter seine Matratze. Etwas Besseres fiel ihm auf die Schnelle nicht ein. Danach stieg er wieder die Treppe runter und ging in die Küche, um das Frühstück vorzubereiten. Mrs. Hudson hatte ihnen (trotz ihrer Auseinandersetzung mit Sherlock) wieder Tee gemacht. Sie war einfach zu lieb und... mütterlich. Lächelnd schmierte er für sich und Sherlock Brötchen, stellte alles zu dem Tee auf das Tablett und setzte sich in seinen Sessel im Wohnzimmer. Der Küchentisch war wieder voll von Experimenten, sodass sie seit Tagen immer im Wohnzimmer essen mussten. Sherlock hatte sich nicht bewegt, aber jetzt öffnete er ein Auge und schaute John abschätzend an. „Sie haben für mich ein Brötchen gemacht.“

„Ja.“ John biss in sein eigenes und nahm die Zeitung. Er hatte keine Lust auf eine Demütigung von Sherlock. Der Doktor rechnete nicht damit, dass Sherlock etwas essen würde. Aber es hätte ihn gefreut, da er das Gefühlt hatte, Sherlock würde von Tag zu Tag mehr abmagern. Vielleicht sollte er Lestrade bitten, ihm irgendeinen Fall zu geben.

John seufzte und vertiefte sich in einen Artikel über den Tod des Millionärs Lancelot Norton. Er war in der vorigen Nacht an Krebs gestorben, und sein Erbe schien viele Menschen zu betreffen, zumindest wurde es so gesagt, da das Testament noch nicht gefunden worden war. Norton hatte sieben Kinder, die sich (laut Boulevardzeitschriften) nicht ganz grün waren.

John hörte ein Schmatzen. Verblüfft klappte er den oberen Teil der Zeitung um und sah, wie Sherlock die Brötchen, und zwar auch Johns, einfach aufaß. Er grinste John selbstzufrieden an, leckte sich dreist die letzten Krümel von den Fingerspitzen und trank seinen Tee aus. „Ich muss zugeben, John, deine Brötchen sind wirklich lecker.“ John öffnete empört den Mund und wollte etwas erwidern, da klingelte es. Kurz, aber durchdringend.

„Endlich“, sagte Sherlock mit leuchtenden Augen und schaute erwartungsvoll zur Tür. 

Sherlock - I have only one friendWo Geschichten leben. Entdecke jetzt