Eine ungewöhnliche Klientin

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In diesem Kapitel tauchen zwei altmodische Wörter auf: Almanach und Retikül. Ein Almanach ist eine Art Nachschlagewerk zu einem bestimmten Thema, das jährlich erscheint, und Retikül ist ein anderes Wort für Handtasche.

Für eine schönere Sprache habe ich weder Jahrbuch noch Handtasche geschrieben. Das mit den Fremdwörtern ist vielleicht eine kleine Macke von mir, aber "Almanach" habe ich aus Sherlock Holmes. Ich bitte höflichst um Verzeihung *entschuldigend verbeug*

John stand vor dem Tor einer Villa. Und was für eine Villa es war! Sie war weiß gestrichen,mit Säulen vor der dunklen Doppelflügeltür, mit einem antik aussehenden Balkon im ersten Stock, umflochten von Efeu; der Garten wirkte verwunschen, überall waren Statuen aus Büschen geschnitten, es gab einen plätschernden Brunnen in der Mitte des steinernen Weges, der zum Eingang führte.

Die Sonne ging gerade auf und ließ alles noch viel geheimnisvoller erscheinen, wie bei einem dieser Filme, in denen alterwürdige Herren, verzauberte Prinzessinen oder Vampire in ebendiesen Villen wohnten.

John schluckte. Neben dem schmiedeeisernem Tor gab es eine Klingel mit Sprechanlage. Er holte tief Luft und drückte auf den Klingelknopf.

„Ja?", ertönte eine schnarrende, hochnäsige Stimme aus der Sprechanlage. John räusperte sich. „Mein Name ist John Watson, und ich bin hier, weil jemand aus Ihrem Haus mir eine Karte geschickt hat - diesen Jemand würde ich gerne persönlich sprechen."

„...eine Karte?"

„Ja, eine Karte. Die Einzelheiten bespreche ich nur mit der betreffenden Person."

Die Sprechanlage knackte, und John wollte schon enttäuscht wieder gehen, als sich das Tor mit einem Quietschen öffnete. Zögernd machte er ein paar Schritte in den Garten hinein, als sich das Tor hinter ihm wieder schloss. Festen Schrittes machte er sich auf den Weg zur Tür.

Ein kleiner, dürrer Butler öffnete sie. Ihm gehörte die schnarrende Stimme aus der Sprechanlage. „Kommen Sie rein."

Er trug einen Anzug, der seine besten Tage hinter sich hatte, obwohl der Kragen gestärkt war, sorgfältig polierte Schuhe und - zu Johns Überraschung - hatte er eine Art Wappen auf die Brusttasche genäht. Es bestand aus mehreren Vögeln, die auf verschiedenen Ästen saßen. Er knallte hinter John die Tür zu. „Setzen Sie sich. Ich hole die gnädige Frau."

Er verschwand hinter einer anderen Tür. John sah sich in der Eingangshalle um. Sie war sehr geschmackvoll, wenn auch etwas altmodisch eingerichtet: An den holzgetäfelten Wänden hingen wertvoll aussehende Bilder, in Glasvitrinen, die mitten im Raum standen, waren kostbar aussehende Antiquitäten ausgestellt: Vasen, Socken mit goldenem Bund, Halsketten, Ringe, Perücken, Bücher (bei näherem Hinsehen erkannte John, dass es sich um Almanache handelte), und auf allem war das Wappen mit den Vögeln. In der Mitte lag ein Teppich auf dem Holzboden, auf dem zwei edle Sofas standen. John setzte sich in eins davon und betrachtete die Bilder. Die Villa hatte eine seltsame Atmosphäre, als wäre die Zeit stehen geblieben und die Menschen hätten vergessen, sich weiterzuentwickeln. Den Doktor hätte es nicht gewundert, wenn die angekündigte Dame ein bodenlanges viktorianisches Kleid getragen hätte, in der Hand ein Retikül mit Puderdose und Riechsalzfläschen. Das würde zumindest zum Ambiente passen.

John räusperte sich, um die seltsame Atmosphäre abzuschütteln. Hinter ihm knarzte eine Tür und eine Dame trat ein. John konnte nicht umhin, sie wirklich mit dem Wort „Dame" zu betiteln. Es passte einfach zu ihr. Sie war unnachahmlich elegant. Ihr schwarzes Kleid aus dünner Seide schien über ihren Körper zu fließen, ohne anzüglich zu wirken. Ihr schulterlanges blondes Haar umschwebte elegant ihr Gesicht. Sie war zart gebaut und nicht allzu groß. Als sie vor John stand, musste sie fast aufblicken. „Guten Tag, mein Name ist Alice Norton. Wie ich sehe, haben Sie meine Karte gefunden, Dr. Watson?", sie lächelte. Der Angesprochene schluckte. „Ich...ja, habe ich. Woher wissen Sie, dass ich Dr. Watson bin und nicht Sherlock Holmes?"

„Allein die Tatsache, dass Sie nur ein bisschen größer sind als ich. In den Zeitungen wirkt Mr. Holmes immer sehr groß. Sie sind übrigens ein sehr süßes Paar." Sie lächelte nochmal schüchtern. John schüttelte entrüstet den Kopf. „Wir sind kein Paar und ich bin auch nicht schwul. Wir wohnen nur zusammen in einer WG, mehr nicht."

„Ach? Aber es wirkt irgendwie so...da ist auf jeden Fall etwas zwischen ihnen." Sie blickte ihn stirnrunzelnd an. „Vielleicht ist es mehr eine Art Seelenverwandschaft?" John hatte das Gefühl, sie würde ihn mit ihrem Blick röntgen. „Nunja,...was ist denn jetzt mit dieser Karte? Warum haben Sie die geschickt?"

„Kommen Sie, wir gehen in den Salon. Da kann ich Ihnen alles erklären."

John folgte ihr durch eine Tür, und sah etwas, das er nicht erwartet hätte. Oder vielleicht doch. So oder so....irgendwie hätte er es wissen müssen. Sherlock Holmes saß am Kopf des Tisches und warf ihm seinen typisch arroganten Blick zu.

Sherlock - I have only one friendWo Geschichten leben. Entdecke jetzt