Sherlock mal ganz anders - oder auch nicht

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Als sie zurück waren, schleppte sich Sherlock die Treppen hoch und ließ sich auf das Sofa fallen. Ihm war kalt und er fühlte sich völlig entkräftet. Warum musste er jetzt krank werden? Das konnte noch bis nach dem Fall warten. Er versuchte aufzustehen, um sich eine Decke zu holen, wurde aber von John sanft zurück gedrängt. „Ich hole Ihnen die Decke, Sherlock.“
Er lief ins Zimmer des Detektivs und holte eine schöne, warme Wolldecke. Insgeheim hoffte er, dass Sherlock nicht allzu schlimm krank war. Da er den Doktor nicht herum scheuchte wie sonst, wenn er „krank“ war (oder eher einen wehleidigen Tag hatte), sondern matt mit glasigen Augen auf dem Sofa lag, war es schon etwas ernstes. John überlegte kurz, Elizabeth abzusagen, entschied sich aber dagegen. 'Sherlock ist ein erwachsener Mann und Mrs Hudson ist ja auch noch da. Mach ihm einfach Tee, wickle ihn in die Decke und gebe ihm etwas gegen Erkältung.', sagte er sich selbst.
Er ging zurück ins Wohnzimmer, wo der Detektiv mit halb geschlossenen Augenlidern zitternd lag.
„Hier Sherlock, ich habe Ihnen die Decke mitgebracht.“ Der Detektiv sagte nichts, er atmete nur tief ein und aus.
John seufzte; dann legte er die Decke sanft auf Sherlock und drückte sie an den Schultern und an den Füßen fest, sodass letzterer in die Decke gewickelt war.
„Mir geht es gut, John“, krächzte der Detektiv.
„Ja ja, schon klar. Bleiben Sie einfach liegen, ärztliche Anweisung. Ich mache Ihnen einen schönen Tee und sage Mrs Hudson, sie soll sich um Sie kümmern.“
„Gehen Sie etwa weg?“, fragte Sherlock heiser und hustete.
„Ach, ich habe ganz vergessen, es zu sagen. Ich habe heute Abend noch eine Verabredung mit Elizabeth Norton.“, erwähnte John beiläufig, während er Teewasser aufsetzte. „Ich dachte mir, Sie sind ein erwachsener Mann und eine Erkältung ist doch -“, er drehte sich zu Sherlock um und stockte. Der Detektiv durchbohrte ihn mit einem derart hasserfülltem Blick, dass ihm heiß und kalt wurde.
„Ähm...Sh..Sherlock?“, fragte er irritiert. Der Angesprochene stand abrupt auf, schwankte kurz, fing sich dann aber.
„Ich brauche keinen Tee. Viel Spaß“, - er spuckte das Wort fast, „bei Ihrem Date.“
Er schnappte sich die Decke, rauschte an John vorbei in sein Zimmer und knallte die Tür zu. Der Doktor sah ihm nur sprachlos hinterher. War Sherlock etwa eifersüchtig?
Nein. Er war wahrscheinlich einfach nur sauer, weil John ihn allein ließ. An manchen Tagen genoss der Detektiv es nämlich, wenn der Doktor ihn umsorgte.
John lief aus der Wohnung, sagte kurz Mrs Hudson über Sherlocks Lage Bescheid und machte sich – hoffentlich ein letztes Mal heute – zur Villa auf.

~*~

Sherlock saß auf seiner Bettkante, die Decke um sich gewickelt, und starrte wütend auf sein Periodensystem an der Wand. Wieso musste John ausgehen, obwohl es ihm so schlecht ging? War er ihm etwa egal geworden? War ihm ein Date wichtiger als die Gesundheit seines Mitbewohners?
Anscheinend ja, dachte Sherlock finster. Und dabei war er doch sonst nie so.
Sherlock ließ sich rückwärts auf sein Bett fallen, rollte sich zur Seite und zog die Knie an.
Bei dem Gedanken daran, dass John sich gerade irgendwo mit einer fremden Frau im Kino amüsierte (und später vielleicht noch mehr), fühlte sich Sherlock noch elender. Er drehte sich um, schloss die Augen und versuchte ein wenig Schlaf zu finden. Aber es ließ ihm keine Ruhe. Die zwei Morde, der Butler, John, das Testament, John...alles drehte sich in seinem Kopf. Es wurde immer unerträglicher, und Sherlock hatte das Gefühl, sein Kopf würde gleich platzen. Nach und nach kamen auch ältere Sachen nach oben, die ihn beschäftigten: Ob er bei dem Fall in Pink die richtige Kapsel gewählt hatte, Moriarty, Dinge aus seiner Kindheit....
Sein Kopf dröhnte. Sherlock blinzelte benommen, seine Wimpern waren verklebt. Er versuchte, auf die Uhr zu schauen. Es war nach 21 Uhr und der Film musste zu Ende sein. Aber jetzt würde John, wenn es gut lief, bei Elizabeth im Bett landen... das war zu viel. Es reichte. Sherlock nahm all seine Kräfte zusammen und stand auf.
Er schwankte stark und alles drehte sich. Bei dem Versuch, seine Zimmertür zu öffnen, stieß er mit dem Kopf gegen den Türrahmen. Der Geschmack in seinem Mund war ekelhaft und er fühlte sich noch elender als vorher, aber es war weder Zeit zu schlafen noch sich den Mund auszuspülen oder zu erbrechen. Sherlock lief – im Zickzack – ins Wohnzimmer, musste sich zwischendurch an Möbeln festhalten. Er sah, dass Mrs Hudson ihm Essen hingestellt hatte; sie war sehr leise gewesen, um ihn nicht zu wecken. Er wollte nicht Mrs Hudson, er wollte John. Aber er nahm sich zusammen und versuchte, seinen Mantel aus der Garderobe zu nehmen, als ihn eine erneute Benommenheit erfasste. Das letzte, was er merkte, war der dumpfe Aufprall, mit dem er auf dem Boden aufschlug. Dann wurde alles schwarz. 

Sherlock - I have only one friendWo Geschichten leben. Entdecke jetzt