Enthüllungen in der Nacht

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Mitten in der Nacht wurde John von der melodischen Stimme einer Geige geweckt.
Schlaftrunken setzte er sich auf und hievte sich aus dem Bett, wickelte sich in sein Laken und tapste ins Wohnzimmer, wo sein Mitbewohner mit geschlossenen Augen am Fenster stand und Geige spielte.
„Ich habe den Fall gelöst, John.“, sagte er, ohne sein Spiel zu beenden. Der Angesprochene ließ sich in seinen Sessel fallen.
„Dann lass mal hören.“
Abrupt setzte Sherlock das Instrument ab, drehte sich schwungvoll um und starrte John an.
„Aber zuerst muss ich dich etwas fragen.“
„Frag ruhig.“
„Erzähl mir von dem Date mit Elizabeth.“
John lachte auf. „Ist das dein Ernst?“
„Es reicht, wenn du von den Aspekten erzählst, die von dem Fall handeln.“
Der Doktor seufzte. Normalerweise hätte er das nicht getan, aber er war müde und wollte endlich wissen, wie der Fall ausging. „Na schön. Wir haben kaum darüber geredet, Sherlock...so etwas gehört nicht zu den romantischen Dingen. Am Anfang haben wir ein wenig Smalltalk gemacht über die Villa und wie schrecklich das ist...und zwischendurch ließ sie kurz eine Bemerkung fallen, dass sie ihre Brüder sowieso nicht besonders gemocht hatte, aber es waren ja immerhin Teile ihrer Familie. Zufrieden?“
„Sonst nichts?“
„Nein, sonst nichts! Jetzt sag mir, wie der Fall ausgeht.“
Sherlock kam eine Idee. „In dem Lokal war es warm. Warst du da mal auf der Toilette?“
John wusste weder, was diese Frage sollte, noch wie das eine mit dem anderen zusammenhing.
„Ich wüsste nicht, was dich das jetzt angeht.“
„Warst du?“
„Ja. Ich werde dir das jetzt aber nicht im Detail schildern, Sherlock.“ Irgendwie mussten beide grinsen. Sherlock war erleichtert. Anscheinend hatte Elizabeth John das Testament in die Jacke gesteckt, als dieser mal kurz pinkeln war. Also konnte er es jetzt unbemerkt verschwinden lassen.
„Du kannst wieder ins Bett gehen, John.“ Sherlock drehte sich um, legte die Geige ans Kinn und spielte weiter. John war so verblüfft über diese maßlose Arroganz, dass er nur empört nach Luft schnappte. Schließlich stand er auf und ging zurück in sein Zimmer, um weiterzuschlafen.
Sherlock indes dachte weiter über das Testament nach. Elizabeth hatte es an sich genommen, aber warum? Leider war es versiegelt, sodass Sherlock (noch) nicht reinschauen konnte. Wahrscheinlich sollte Alice – außer dem Pflichtanteil ihrer Geschwister und einer kleinen Belohnung für Mr. Jones – alles erben. Wahrscheinlich hatte Elizabeth einen Komplizen, der Testamente fälschen konnte. Sherlock hatte ein wenig nachgeforscht, und anscheinend war ihr Exfreund, dem sie noch eine Menge Geld schuldete, von Beruf in der forensischen Kriminaltechnik tätig, genauer gesagt bei dem Vergleichen von Handschriften. Damit passte alles zusammen. Ihr Exfreund hatte den Notar von Mr. Norton dazu gebracht, ihm das Testament auszuhändigen. Er konnte ein neues Testament verfassen, dass auf Elizabeth zugeschnitten war, und sie konnte ihm das Geld auszahlen.
Grimmig hackte Sherlock auf seine Geige ein, sodass es krumm und schief klang. John so auszunutzen! Leider hatte er keine Beweise, aber alles passte zusammen.
„Sherlock!“ Erschrocken drehte der Detektiv sich um. John stand keuchend im Türrahmen und schaute ihn entgeistert an. „Was zum Teufel spielst du da?!“
„Ich...“, antwortete Sherlock plötzlich ganz kleinlaut. Wie ein Reflex benutzte er die einzige Verteidigung, die ihm einfiel: Gegenangriff. Leider nahm er das erste, das aus seinem Unbewussten auftauchte. „Wieso gehst du nie mit mir essen?“
„Was?“
„Du hast mich nie gefragt, ob ich mit dir essen gehen will.“
„Das ist doch jetzt überhaupt nicht das Thema!“
„Doch, ist es. Wenn du mit mir essen gegangen wärst, hätte ich jetzt nicht dieses Dilemma.“ Sherlock biss sich schnell auf die Unterlippe, aber es war zu spät.
„Was für ein Dilemma?“, fragte sein Mitbewohner entgeistert. Sherlock konnte ihm das schlecht erklären, da er es ja vor ihm geheim halten wollte, dass Elizabeth ihn ausgenutzt hatte. Andererseits...wenigstens würde er sich dann nicht mehr mit ihr treffen wollen, und der Gedanke daran erfüllte Sherlock mit tiefer Befriedigung.
„Elizabeth hat dich ausgenutzt. Sie wollte nichts von dir. Sie hat nie etwas von dir gewollt.“, erklärte er dem Doktor kalt.
„W..W..Was redest du da eigentlich?!“, rief John erbost. „Wir haben das schon über 100 Mal besprochen, dass dich so etwas nichts angeht!“
Statt einer Antwort holte Sherlock Johns Jacke, griff in seine Jackentasche und zog das Testament hervor. Johns entsetztem Blick nach zu urteilen hatte der Detektiv damit Recht behalten, dass John unschuldig war.
„Sh..Sherlock...ich hab keine Ahnung, wie..“
„Ich weiß, John.“ Der Doktor presste die Lippen zusammen, seine Stirn runzelte sich. Er dachte nach.
„Deine Befragung vorhin....hast du mich...du hast mich verdächtigt?“, flüsterte er. „Du hast mich ganz ernsthaft verdächtigt, ich würde so etwas tun?!“
„John..nein, ich...ich musste sichergehen...“, stammelte Sherlock irgendwas daher.
„Nein, du hast mich verdächtigt! Mich, deinen besten Freund!“, Schmerz und Enttäuschung lag in Johns Stimme. Er ging einen Schritt auf Sherlock zu, der wiederum zurückwich. John hob an, als wollte er noch etwas sagen, aber er drehte sich um und eilte aus dem Zimmer. Der Detektiv hörte nur noch das Knallen seiner Zimmertür, dann war es still. 

Sherlock - I have only one friendWo Geschichten leben. Entdecke jetzt