Das Vogelhäuschen

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  • Gewidmet allen Menschen, die gerade in einer Waschküche hocken (nur weil ich es selbst tu
                                    

Als sie die Treppe erreichten, ließ Sherlock John los. Der Detektiv lief weiter, die Treppe herunter. John starrte ihm hinterher. 

Der Detektiv traf auf Lestrade, sprach kurz mit ihm.
John starrte ihm hinterher.
Der Detektiv lief mit wehendem Mantel aus dem Haus.
John starrte ihm hinterher. Sein Kopf fühlte sich leer an und sein Mund war trocken. Was war hier passiert? Er versuchte sich zu sammeln. Ich heiße John Watson, war Militärarzt in Afghanistan. Jetzt bin ich im Ruhestand und arbeite weiter als Arzt. Ich wohne in der 221B Baker Street, mit Mrs Hudson und meinem Mitbewohner, dem Detektiv, der mich gerade geküsst hat, aber nicht aus romantischen Gründen, sondern um nicht aufzufliegen, denn Sherlock Holmes ist gar nicht in der Lage zu...Stopp. Darüber mochte John nicht nachdenken. Das ging ihm definitiv zu weit. Vor allem, weil er merkte, dass er seine eigene Sexualität infrage stellen müsste. John blinzelte und schüttelte den Kopf, um die Gedanken abzuwehren.
Ich bin Arzt und Soldat, ich muss mich konzentrieren! Er lief die Treppe herunter und in den Garten. Wie erwartet stand Sherlock vor dem Baum mit dem Vogelhäuschen und war gerade im Begriff, einen Weg auf den Baum zu finden. Er schritt um den Baum herum und schaute nach oben.
„Ja, hier wird es gehen“, murmelte er, streckte sich und machte Anstalten, den ersten Ast zu erklimmen. John rannte zu ihm hin. „Ähm, Sherlock? Was soll das werden?“
„Sie sehen es doch John. Ich klettere auf einen Baum.“
„...ja. Das sehe ich. Aber wollen Sie bis zu dem Vogelhäuschen klettern? Die Äste sind dort oben viel zu dünn!“
Sherlock war mittlerweile zwischen dem dritten und dem vierten Ast angelangt.
„Ich bin nicht zu schwer“, ächzte Sherlock und hangelte sich weiter.
„Sherlock, jetzt kommen Sie da runter! Sie brechen sich gleich noch was!“ John lief genervt hin und her.
„Sie sind doch sonst nicht so ängstlich, John. Sie sind sonst immer so abenteuerlustig....uff!“, Sherlock quetschte sich in die dicht belaubte Baumkrone. Die ersten Äste knackten bedrohlich.

„Ängstlich?! Ich bin überhaupt nicht ängstlich! Ich hab nur keine Lust, Sherlock ich – musste – unbedingt – auf – einen – Baum – klettern Holmes acht Wochen lang zu pflegen, weil er sein Bein gebrochen hat!“
Es knackte noch ein paar mal, dann: „Ich hab es!“, ein triumphierender Schrei von Sherlock. Es knackte heftiger.
„Sherlock, kommen Sie jetzt da runter!“ John stand direkt unter dem Baum, konnte aber keinen Menschen darin erkennen, bis es noch einmal knackte und er Sherlock sah, wie er langsam zurück kletterte, das Vogelhäuschen in der Hand. Er schaffte es bis zum drittletzten Ast in etwa drei Meter Höhe, da gab der Ast nach. Er war zu morsch. Sherlock verlor das Gleichgewicht und fiel herunter. John sah den Detektiv nur noch als schwarzen Schatten auf sich zufliegen, da lag er schon am Boden, auf ihm gelandet der Detektiv. Der Doktor ächzte. „Runter von mir“, presste er zwischen den Zähnen hervor. Sein Kopf wurde von Sherlocks Brustkorb heruntergedrückt, und der Detektiv machte keine Anstalten, von ihm herunterzugehen. Stattdessen öffnete er das Vogelhäuschen.
„Wie ich es gesagt habe, John. Ein Hinweis!“, er hielt zufrieden einen weiteren Zettel hoch. John versuchte, den Detektiv von sich herunterzuschieben. „Gehen – Sie – von – mir – runter!“
Sherlock rollte sich zu Seite und John setzte sich auf. „Gar nicht schwer“, stöhnte der Doktor.
„Wenn Sie so klein sind“, erwiderte der Andere und betrachtete den Zettel.
„Klein? Was hat das denn damit zu tun?“ Sherlock antwortete nicht, er war in seinen neu entdeckten Hinweis vertieft. Dann stand er auf und blickte gen Haus.
„Ich denke, es ist Zeit, noch einmal mit Alice zu reden.“ Er klopfte sich ein paar Blätter von dem Mantel und hielt John die Hand hin. „Kommen Sie.“ John blieb sitzen und starrte Sherlock an. Dieser seufzte. „Was ist denn?“
Kurz zögerte John, sein Mund öffnete sich leicht und seine Zunge zuckte, als wollte er etwas sagen. Sein Gehirn schrie förmlich 'Frag es! Frag, warum er dich geküsst hat! Er hätte auch so viele andere Ausreden nehmen können!' Aber John sagte nichts. Ihm fiel auch keine alternative Ausrede ein.
Sherlock sah ihn mit einem seltsamen Blick an. „Wir reden später, kommen Sie jetzt. Alice Norton schuldet uns ein paar Antworten.“
Der Doktor ergriff Sherlocks Hand und ließ sich von ihm hochziehen. „Genau“, sagte er. „Lassen Sie uns Alice Norton befragen.“
Gemeinsam gingen sie zum Haus, nicht merkend, dass jemand, der sich im ersten Stock hinter Gardinen versteckte, sie beobachtet hatte.

Sherlock - I have only one friendWo Geschichten leben. Entdecke jetzt