Kapitel 8

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Hier ein etwas kürzeres Kapitel:

John:

Als ich mit Lesen fertig bin habe ich ein angenehm warmes Gefühl in der Brust. Alex' Worte haben mir Mut gemacht, sein Verständnis für meine Situation und die Ratschläge, die irgendwie helfen ohne belehrend zu wirken. Außerdem: ER IST BI OMG!! Und er sagt, dass er mich perfekt findet, so wie ich bin! Haben wir vielleicht doch noch Chancen? Ich kann mein Herz spüren, dass aufgeregt pocht.

John, reiß dich zusammen, ermahne ich mich wieder mal, auch wenn er bi ist muss das nicht heißen, dass er auf dich steht.
Das Glücksgefühl bleibt trotzdem bestehen. Seine kleinen Geschichten über ätzende Klassenkameraden, nervige Lehrer und Kindheitsfreunde bringen mich zum Lachen und alles an diesem Brief wirkt so... ehrlich und als ob er jedes Kompliment, jede Bemerkung, einfach alles genau so meinen würde.
Ich bin mir wirklich nicht sicher, ob ich ihm einen Stick mit einer Aufnahme von mir schicken will. Ich beschließe, die Entscheidung auf später zu vertagen und erst mal den Text zu lesen. Dieses Mal ist es keine Kopie, sondern direkt aus einem Heft oder Notizbuch gerissen. Etwas nervös beginne ich zu lesen und plötzlich kann ich auch Alex' andere Seite spüren, die Seite, die seine Briefe eher weniger zeigen, spüren, dass er nicht nur ehrlich und fürsorglich ist, Komplimente macht, tröstet und mich zum Lachen bringt. Dieser Text zeigt mir einen Jungen, in dessen Innersten irgendetwas zerbrochen ist, der seinen Schmerz nur über einen Kugelschreiber zum Ausdruck bringen kann, seine Wut und seine Trauer in ein Stück Papier sperrt.
Der Text hat keine Struktur, aber beim Lesen kann ich einen gewissen... Rhythmus spüren. Eigentlich besteht der ganze Text nur aus Ansammlungen von Satzfetzen, die nicht zusammen hängen, zum Teil nicht mal in sich schlüssig sind, aber ich muss zugeben, dass es auf eine sehr eigene, kantige Art schön ist. Es ist nicht einfach zu lesen, aber es regt mich definitiv zum Nachdenken an.
An einer Stelle bleibe ich hängen. Sie lautet: „Liebe ich? Was ist Liebe? Was ist Liebe? Woher weiß ich, ob ich liebe? Was fühle ich? Warum weiß ich nicht, was ich fühle?" und irgendwie weiß ich, dass ich die Antwort auf meine Frage gefunden habe, ob eventuell mehr zwischen uns ist: Nein. Bisher jedenfalls nicht. Dafür ist sich Alex nicht sicher genug über seine eigenen Gefühle.
Ich bin hin-und hergerissen zwischen Enttäuschung, dass er nichts für mich empfindet und Hoffnung, weil er sich zumindest Gedanken darüber gemacht zu haben scheint.
Halt, bremse ich mich, was wenn es gar nicht um mich geht? Was, wenn es einfach um ein Mädchen oder einen Jungen aus seiner Schule geht? Was, wenn einfach meine Fantasie mit mir durchgegangen ist?
Er hat nie auch nur angedeutet, dass er sich auf diese Art für mich interessiert, vielleicht war das nur mein eigenes Wunschdenken und überhaupt: Das waren nur einige Zeilen in einem Text. Warum interpretiere ich da überhaupt so viel rein?
Die Antwort kenne ich natürlich: Ich will, dass es um mich geht, will nichts mehr, als dass er sich genau so Gedanken über seine Gefühle mir gegenüber macht wie ich mir über meine.
Andererseits, er hat gesagt, dass es in seinem Leben keine Mädchen (oder andere Jungs) gibt. Und so, wie er es beschreibt bin ich sein einziger Freund. Würde er mir da nicht sagen, wenn er auf jemand anderes als mich stehen würde?
Plötzlich machen meine Gedanken einen unerwarteten Sprung und ich stehe wieder vor meinem vorherigen Problem:
Soll ich ihm eine Aufnahme von mir schicken? Ich mag meine Stimme und ich treffe die Töne sehr zuverlässig, aber meine Stimme hat (noch) nicht besonders viel Kraft, was, meiner Meinung nach, daran liegt, dass ich Angst habe, dass mich jemand hört und es mir verbietet.
Aber Alex weiß ja, dass ich gerade erst angefangen habe, er würde mich sicher nicht verurteilen. Andererseits würde ich ihm gerne eine perfekte Aufnahme schicken.
Plötzlich fällt mir etwas in, dass ich in einem „How to improve your singing"- Video gesehen habe: Anscheinend wird der Gesang besser, wenn man an jemanden denkt, der einem wichtig ist und gedanklich für diese Person singt.
Vielleicht habe ich ja mehr Kraft in der Stimme, wenn ich beim Singen an Alex denke? Einen Versuch ist es vielleicht wert.
Ich entscheide mich, wieder „Waving through a window" zu singen, einerseits als kleinen Insider, weil er ja angefangen hat, Dear Evan Hansen zu hören und andererseits, weil das das einzige Lied ist, bei dem ich mich selber am Klavier begleiten kann.
Ich schnappe mein Handy und gehe ins Wohnzimmer, wo das Klavier steht. Zuerst mache ich ein paar Aufwärmübungen, sowohl für meine Hände als auch für meine Stimme, dann spiele ich die Begleitung für das Lied sicherheitshalber nochmal durch, um die Bewegungsabläufe abzurufen. Dann starte ich auf meinem Handy eine Aufnahme, atme tief durch, starte das Intro, hole noch ein weiteres Mal Luft und beginne: „I've learnt to slam on a break..." Es dauert nicht lang, bis ich komplett in der Musik versunken bin. Meine Hände bewegen sich wie von selbst, meine Stimme lässt meinen ganzen Körper leicht vibrieren. Als ich am Ende des letzten Tons meine Augen öffne, steht meine Mutter neben mir. „Das klingt sehr schön." Hastig schnappe ich mein Handy und beende die Aufnahme, dann drehe ich mich zu ihr und lächele. „Danke, Mom" „Ich meine es ernst.", erklärt sie. „Du machst das wirklich gut. Ich finde, dass du eigentlich gar keinen Gesangsunterricht brauchst." Ich habe keine Lust auf eine Diskussion, also sage ich nur: „Danke. Das ist echt lieb von dir" und gehe zurück in mein Zimmer, nur um es eine Sekunde später wieder zu verlassen. „Mohoooooom? Kann ich den Laptop benutzen?", frage ich. „Wofür?" Mom beäugt mich argwöhnisch. Ich seufze. „Muss was für die Schule machen." „Ich dachte, du müsstest nur den Brief schreiben?" „Ich muss auch noch n Projekt vorbereiten. Das hatte ich vergessen" Irgendwie habe ich keinen Bock, ihr zu erklären, dass ich einem Jungen, den ich an sich kaum kenne, einen von unseren heiligen USB-Sticks zu schicken, nur damit er sich meinen Gesang anhören kann.
„Also gut. Hier." Mom gibt mir den kleinen Familienlaptop und das Ladekabel und ich verschwinde wieder in meinem Zimmer. Wie immer braucht das Teil eine gefühlte halbe Stunde zum hochfahren, wahrscheinlich weil Ellie so viel Müll darauf geladen hat. Ich schließe mein Handy und einen unbenutzten Stick mit lächerlichen 2 GB Speicherplatz an und ziehe die Aufnahme von meinem Handy auf den Stick, dann wühle ich in meinem Schreibtisch nach einem gepolsterten Umschlag und stopfe den Stick hinein. Fehlt ja nur noch der Brief. Eigentlich habe ich so viel zu sagen, dass ich ihn viel lieber anrufen würde, was meiner Meinung nach sowieso eigentlich überfällig ist.
Einer spontanen Eingebung folgend öffne ich meinen Browser und tippe „Connor Hamilton, NY 10024" Ein paar Klicks später sehe ich einen Eintrag mit Connors Namen, Adresse und Telefonnummer vor mir. Ich scrolle etwas nach unten und sehe, dass unter „Weiter Familienmitglieder/ Mitbewohner" auch Alexander Hamilton gelistet. Ich kann spüre, wie mein Herz Purzelbäume schlägt. Soll ich ihn anrufen? Ich habe die Nummer bereits halb eingetippt, als mich doch der Mut verlässt. Stattdessen speichere ich die Nummer nur unter „Alex Festnetz" in meinen Kontakten ein.
Dann wollen wir uns doch mal dem Brief widmen...

Letters- Eine Hamilton FanfictionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt