Kapitel 24

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John:

Ich irre durchs Schulhaus auf der Suche nach Alex. Ich weiß, er hat gesagt, dass er Zeit für sich braucht, aber ich habe das Gefühl, dass es alles nur schlimmer macht, wenn ich ihn jetzt zu lange allein lasse, allein mit den Gedanken, die offensichtlich nicht gut für ihn sind.

Ich weiß nicht, wie er darauf kommt, dass er immer alles kaputt macht, aber er scheint selber daran zu glauben, also muss ich ihn vor sich selbst schützen. Ich versuche, mich in ihn hineinzuversetzen. Wo würde er hingehen?

Raus, beschließe ich, Alex mag das Schulgebäude nicht, es ist ihm zu unübersichtlich. Draußen ist es viel übersichtlicher.
Mein erster Impuls wäre der Ausgang in der Nähe der Krankenstation, aber dann geht mir auf, dass wir den noch nie benutzt haben, also kann Alex nicht wissen, dass er da ist. Er wird den Ausgang bei der Cafeteria genommen haben, den nächsten, den er kennen sollte.
Ich drücke die Türe nach außen auf und trete raus auf die Wiese. Keine Spur von Alex, zumindest nicht auf den ersten Blick. Auf den zweiten Blick kann ich die obere Hälfte seines Kopfes hinter einer niedrigen Mauer sehen, die die Sportplätze vom Pausenbereich abtrennt. Ich laufe hinüber, springe über die Mauer und lasse mich neben ihn fallen. Er hat die Knie angezogen, den Kopf in den Händen vergraben.
Als ich mich bemerkt, blickt er auf und ich bin schockiert, wie blass und fertig er aussieht.
„John i-ich", er holt tief Luft, „Ich habe es nicht so gemeint, ich..." Er fährt sich mit beiden Händen übers Gesicht. „Das mit James... Ich weiß, es kling dumm, aber es macht mich so fertig, er... ich... Ich hätte ihn wirklich schlimm verletzen können, ich habe ihn schlimm verletzt, auch wenn er noch Glück gehabt hat und..." Er hebt seine bandagierten, leicht zitternden Hände vor sein Gesicht, „Ich wusste gar nicht, dass ich zu sowas fähig bin, ich kenne mich selber gar nicht mehr und... Weißt du, was das Schlimmste für mich war?" Stumm schüttele ich den Kopf. „Ich hatte so eine Angst, als ich dich oben auf der Treppe gehört habe, ich- ich dachte, dass du mir das nie verzeihen könntest, irgendwie habe ich es sogar fast gehofft, dass du wütend auf mich wärst, mich wie ein Monster behandelst meine ich, weil... weil ich mich wie ein Monster gefühlt habe. Dass du nicht wütend warst war einerseits gut, toll, meine ich, weil... du mir verziehen hast, aber andererseits hatte ich das Gefühl, dass du mein wahres Ich nicht gesehen hast, dass du nicht wusstest, wie gefährlich ich sein kann und... das hat mir Angst gemacht. Ich weiß, das klingt dumm." Verlegen legt er den Kopf schief, sieht mich aber nicht an. Mein Magen hat sich zusammengekrampft, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Noch bevor ich zu irgendeinem Ergebnis gekommen bin, redet er bereits weiter: „Und dann bin ich wieder wütend geworden, auf die dumme Krankenschwester, die Maria für alles die Schuld gegeben hat und plötzlich hatte ich so Angst vor mir selber, weil ich kurz davor war, wieder die Kontrolle zu verlieren. Und... Und als du gesagt hast, dass Therapie gut für mich wäre, da... da habe ich gemerkt, dass du wahrscheinlich Recht hat, aber das hat mich... verunsichert. Und als du dann gesagt hast, wie wichtig ich dir bin und dass du... du weißt schon... Ich weiß nicht, plötzlich hatte ich das Gefühl, dass ich das alles gar nicht verdiene und irgendwie war mir alles zu viel und..."
Vorsichtig greife ich nach seiner Hand. „Ich weiß, was du meinst.", sage ich leise, „Danke, dass du es mir erklärt hast. Ich-Ich habe alles, was ich vorhin gesagt habe so gemeint, ich weiß, es ist vielleicht zu schnell, zu früh und... ich mache dir keinen Vorwurf, dass es dir zu viel geworden ist. Ich kenne das Gefühl."
Alex beugt sich zu mir, lehnt seine Stirn an meine. „Womit habe ich dich nur verdient?", fragt er leise. Ich lache leise. Dann reckt er sein Kinn vor, wie um mich zu küssen, aber ich drehe meinen Kopf zur Seite. Irgendwie kann, will ich das gerade nicht, nicht nach dem, was passiert ist. Ja, ich verstehe seine Beweggründe und es ist auch nicht, als hätte ich Angst vor ihm, aber trotzdem sehe ich, sobald ich ihn ansehe, nur sein blasses Gesicht und den verängstigten Gesichtsausdruck „Bitte hass mich nicht"-Blick, mit dem er mich angesehen hat, als ich die Treppe herunterkam und mit diesem Bild im Kopf weiß ich genau, dass ich es nicht genießen könnt, wenn er mich jetzt küssen würde und das will ich weder ihm noch mir antun. Er sieht mich mit einem überrascht-verletzten Gesichtsausdruck aus und plötzlich wird mir klar, dass er jetzt wahrscheinlich denkt, dass ich mich vor ihm fürchte und ich gerade alles nur schlimmer gemacht habe. Um ihm zu zeigen, dass das definitiv nicht der Fall ist, nehme ich seine Hand, verschränke meine Finger mit seinen und kuschele mich an ihn. Nach einem kurzen Zögern lehnt er seinen Kopf gegen meinen und drückt sein Gesicht in meine Haare. Wir reden nicht, weil fürs erste alles gesagt ist und irgendwie ist das in diesem Moment genau das Richtige.

Letters- Eine Hamilton FanfictionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt