Rachel
Ich stieß ein genervtes Seufzen aus.
"Warum musst du schon wieder weg? Du warst doch erst letzte Woche in Brüssel."
"Ach Rachel, du weißt wie wichtig mir mein Job ist", versuchte Mum sich zu verteidigen.
"Wichtiger als deine Tochter?", ich hob eine Augenbraue.
Nun war sie es die Seufzte und konzentrierte sich wieder auf die Autofahrt. Ich leiß die Schultern hängen und schaute aus dem Fenster.
Meine Gedanken schweiften wie so oft ab und blieben an den Jungen hängen, den ich vor der Konzerthalle bemerkt hatte.
Diese blauen Augen, sein schmales Gesicht, die blonden Locken. Kein Zweifel, es war der Junge aus meinem Traum. Der Junge der mir so ähnlich sah.
Ich erinnerte mich an diesen kurzen Moment, als wir uns gegenseitig in den Augen gestarrt hatten. Wie ich auch nach einer Erklärung suchte, dass er immer wieder auftauchte, keine schien logisch.
Ein entferntes Hupen zerrte mich aus der Gedankenwelt und unser weißes Haus rückte in meinen Blickfeld. Sobald Mum das Auto vor das Haus anhielt, stieg ich aus und schlug die Tür zu, ein Zeichen für Mum, dass ich immer noch sauer war.
Auf der Veranda blieb ich stehen, wartete bis Mum aufsperrte. Nachdem ich meine Schuhe in den Schrank stellte und mich in den angrenzenden Wohnzimmer begab, hörte ich wie Mum eilig ihren kleinen Koffer vor die Tür stellte. Sie streckte noch mal den Kopf durch die Tür.
"Morgen Nachmittag bin ich wieder da. Hab dich lieb."
Ich nickte und erwiederre auch ein paar Abschiedsworte. Dann hörte ich ihre eiligen Schritte. die Tür fiel zu.
Ich legte mich flach auf das Sofa und starrte Löcher in die Wand. Gerade als ich überlegte ob ich lieber Grace oder Dad anrufen sollte um ein wenig Gesellschaft zu haben, klingelte es an der Tür.
Sicher Mum, die etwas vergessen hatte. Genervt stand ich auf schritt zur Tür. Ich machte mich schon bereit Mum schnippisch zu fragen ob sie was vergessen hat oder ob sie sich doch für ihrer Tochter entschieden hat, als mich ein himmelblaues Augenpaar anstarrte.
Er war es wieder. Aus dieser Nähe erkannte ich Kratzer, Narben und Beulen, die sein Gesicht zierten. In seinen blondem Haar hatten sich einige Ästchen verfangen und in seinen Augen lag Erschöpfung.
Meine Augen wanderten an ihn hinunter. Vor staunen bekam ich den Mund nicht zu. Das Motiv des blauen Pullis war mir nur allzu vertraut. Es war Larsons Pulli und, nach einen kurzen Blick, seine Hose, die er da an hatte.
Ich suchte wieder seinen Blick, der einen Ausdruck Ansicht hatte, den ich nicht entziffern konnte. Mir schossen all die Momente in den Sinn, indenen ich ihn begegnet hatte: Ich träumte von ihn, dann sah ich ihn in meinen Spiegelbild, am Konzert und schließlich hier.
"Wer bist du?"
Ich hauchte die Frage, war mir nicht einmal bewusst dass ich sie ausgesprochen hatte.
"Naja...komplizierte Geschichte. Kann ich reinkommen?"
Er kratzte sich unschlüssig am Nacken.
"Wer bist du?", wiederholte ich meine Frage, diesmal bestimmter, fast drängend.
Mein Gegenüber sah mich an.
"Ich heiße Jason."
"Das meine ich nicht. Ich habe dich nicht gefragt wie du heißt sondern wer du bist."
Nun seufzte Jason.
"Das wirst du mir wahrscheinlich nicht glauben, aber ich...ich bin dein Bruder."
Mein Herz setzte einen Schlag aus.
"Du...du bist was?", flüsterte ich ungläubig.
Mein ganzer Kopf schwirrte voller Gedanken.
Konnte es sein...? Nein. Das konnte nicht sein. Wieso sollte ich einen Fremden vertrauen, mehr als Mum und Dad? Doch obwohl es zich Gegenargumente gab, irgendwas gab mir das Gefühl ihn vertrauen zu können.
Eine kleine Stimme flüsterte mir dies zu, während ich ihn mit offenen Mund anstarrte und mir überlegte was ich machen sollte.
"Warum sollte ich dir, einen Fremden, glauben?"
"Rachel, lass es mich wenigstens versuchen es dir zu erklären."
Ich schaute ihn ratlos an.
"Rachel, bitte"
Jason hob die Hand an, dann schob er sie durch die Tür. Panisch schlug ich diese zu. Ich wusste nicht wieso, aber irgendwie machte mich diese plötzliche Aufdringlichkeit angst. Er war immerhin ein Fremder.
Kurz darauf bereute ich meine Aktion, ich hätte ihn erklären lassen sollen, auch wenn es nur Bullshit war, wenigstens hätte ich Gesellschaft und was zum lachen. Gefährlich sah er ja nicht aus, vielleicht könnte er ja sogar recht haben...
Ach sei nicht albern, dachte ich, Dad hätte mich niemals belogen.
Ein heftiges Klopfen an der Tür holte mich zurück aus meinen Zweifeln.
"Rachel! Mann, bitte! Ich bin dein Bruder. Bitte glaube mir! Ich weiß du bist schüchtern, du hast dich ja immer hinter mich versteckt als du klein warst. Weißt du denn gar nichts mehr?", die Stimme wurde leiser und ich drückte mein Ohr an die Tür um Jason zu verstehen.
"Und jetzt? Brauchst du mich denn nicht? Wer beschützt dich jetzt vor deiner Angst? Ich frage mich ob du immer noch Angst vor offenen Türen hast."
Sein Selbstgespräch wurde von kleinen Schluchzern übertönt. Etwas in seiner Verzweiflung hielt mich an der Tür, doch es könnte auch an der Wahrheit liegen, die er da aussprach.
Ich weiß nicht woher diese Angst kam, doch ich konnte in keinen Raum schlafen, dessen Tür auf war. Vielleicht war es die Angst einen Kindes vor Monster, oder ich fühlte mich so geborgen und sicher.
Ich weiß es nicht. Aber was ich weiß ist, dass ich sie habe. Und dass niemand davon weiß. Dachte ich bis jetzt.
Dieses Geheimnis, das er da aussprach ließ meine Hand ausstrecken und die Türklinke nach unten ziehen. Ich öffnete sie einen Spalt und blickte hindurch.
Der fremde Junge kauerte auf dem Boden, wie ein Haufen Lumpen. Verletzt und armselig.
Jason hatte mich wahrscheinlich bemerkt, denn er beobachtete mich mit verweinten, himmelblauen Augen.
Wir sahen uns einige Momente tief in den Augen.
Er, während er am Boden zertört dortlag und ich wie ich schüchtern aus dem Türspalt spähte.
Ohne eine Wort und ohne den Blick abzuwenden öffnete ich die Tür ganz und lächelte ihn leicht an.
Zögernd stand er auf, wischte sich eilig mit dem Ärmel über die Augen und stand wieder gerade und selbstbewusst da, fast so als habe er nicht gerade dort gelegen.
Doch sein Gesicht zeigte immer noch Unsicherheit. Bevor er den ersten Fuß durch die Schwelle setzte sah er mich nochmals an.
Seine Augen lächelten von ganzem Herzen.
DU LIEST GERADE
Der Straßenjunge, der behauptete mein Bruder zu sein
Teen Fiction„Wer bist du?", fragte ich verwundert den Jungen mir gegenüber. Sein schmales, dreckiges Gesicht war übersät von kleinen Schrammen und ein paar Narben. Wäre seine ordentliche Kleidung nicht, hätte ich ihn für einen Straßenjungen gehalten. „Das wirs...