ZEHN

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Jason
Ich wurde plötzlich und unerwartet aus dem tiefen Schlaf gerissen, eine unruhige Nacht voll verwirrender Träume hatte ich hinter mir.
Ich hatte lange geschlafen, die Sonne blickte schon lange auf die Erde. Eine Amsel sang allein ihr schönes Lied.
Doch ein nervtönendes Rattern, gefolgt von lauten Männerstimmen verschluckte den wohlklingenden Gesang. Ein Beben durchzitterte das alte Gebäude, ich setzte mich ruckartig auf.
Ein erneutes Beben, dann lautes Krachen. Die Decke über meinem Kopf knirschte gefährlich.
Schnell stand ich auch und rannte zum Ausgang um den Grund des Lärms zu erfahren. Mir wurde unerwartet Schwarz vor den Augen. Ich strauchelte, doch schnell fing ich mich wieder.
Als die Fabrik erneut unter tosenden Lärm erzitterte beschlich mich eine böse Vorahnung. Ich spähte aus der Tür, dessen Angeln nicht mehr lange aushalten würden.
Warmes Sonnenlicht begrüßte mich, doch ich ließ es unbeachtet und spähte hinter die Ecke.
Ein kranartiges Gebilde streckte sich dem Himmel entgegen. Von seinem langen Ende schwangte eine schwere, eiserne Kugel durch die Luft. Sie kam der Hauswand gefährlich nahe. Dann ertönte ein ohrenbetäubender Lärm.
Ein klaffendes Loch in der Wand sah mich an. Von Panik erfüllt rannte ich zurück, nahm meine sieben Sachen und stürzte hinaus, gerade rechtzeitig.
Mit einem erneuten Krach stürzte ein Teil der Decke auf meine alte Matratze.
Zwar wurden alle Geräusche im Umkreis von hundert Metern überdeckt, trotzdem bewegte ich mich vorsichtig. Ich ließ mich in der Nähe unter schützenden Dickicht nieder und beobachtete das Geschehen.
Mit jedem Schlag der Kugel stürzte immer mehr des Hauses, welches ich zwei Jahre lang "Zuhause" nannte, ein.
Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken und ließ meinen Atem stocken: Jetzt haben sie mir auch noch meinen Unterschlupf genommen. Wo sollte ich nun hin? Dann traf mich eine weitere Erkenntnis:
Heute war Samstag. Heute würde ich meine Schwester sehen. Nach acht Jahren.
Meine ganzen Bedenken wurden weggeräumt und machten Platz für Rachel.
Ich wühlte kurz in meinen Schlafsack herum, griff in den Rucksack und holte den Zeitungsartikel heraus.
Ich musste zur Kasernenstraße 14. Ich wusste wo sie lag, durch mein Straßenleben kannte ich jede Ecke der Stadt. Die Zeit reichte locker. Fünf Stunden.
Ich nahm das wichtigste an mir, den Zeitungsartikel, meinen alten Ausweis, welcher überaschenderweise erst in einem halben Jahr verfallen würde und etwas Kleingeld.Das alles verstaute ich in der Tasche des blauen Pullis.
Den Rest versteckte ich in der Hecke, gut verborgen unter Laub und Äste. Dann machte ich mich auf, die Straße zu suchen.

Mein Magen war gefüllt, die Wärme der Sonne streichelte mein Gesicht und die leichte Brise kitzelte meinen Nacken. Abgesehen von der Zerstörung der alten Fabrik, spürte ich, dass dieser Tag, der die Mittagsstunde bereits übertraf, ein guter werden würde.
Das gab mir Mut, nicht komplett vor Aufregung auszurasten. Während ich die Straßen abging, malte ich mir hunderte verschiedene Möglichkeiten aus, wie Rachel reagieren würde.
Ich ließ mir Zeit, da sie nicht knapp war.
Eine halbe Stunde vor dem Beginn fand ich die kleine Konzerthalle. Ich ließ mich etwas abseits des Eingangs nieder und genoss die warme Frühlingssonne.
Nach einiger Zeit fuhr ein weißer Mercedes vor. Nach seinen Kennzeichen zu urteilen, kam er von hier.
Ich beobachtete, wie er auf einen naheliegenden Parkplatz anhielt.
Eine Frau in einen schwarzen eleganten Kleid stieg aus. Ihre Haare waren ebenso wie ihr Kleid rabenschwarz. Die Augen waren hinter einer großen Sonnenbrille versteckt.
Kurz danach stieg ein Mädchen vom Beifahrersitz aus. Mit dem Rücken zu mir erkannte ich dunkelblonden Haare, welche künstlerisch geflochten waren. Dann drehte sie sich um.
Ihr Blick blieb an mir hängen. Sofort erkannte ich sie.Um uns bleib die Zeit stehen, die Welt hörte auf sich zu drehen. Sie sah mich mit ihren himmelblauen Augen, deren Farbe die meinen entsprachen, verwirrt an.
Wie eine Instinkt, wusste ich dass es Rachel war.
Ich wollte zu ihr rennen, sie umarmen, sie nie wieder loslassen, doch noch nicht. Ich musste abwarten.
Dann rief die Frau nach ihr. Rachel, schüttelte ihren Kopf, als wollte sie einen hartnäckigen Gedanken vertreiben und wand sich dann von mir ab.
Der Moment zerbrach, die Zeit nahm wieder ihren Lauf, die Welt drehte sich weiter.
Ich weiß nicht wie lang dieser Moment angedauert hatte, eine Sekunde, eine Minute, eine Stunde. Jegliches Zeitgefühl hatte ich verloren, wie hypnotisiert beobachtete ich die Frau und das Mädchen, wie sie den Eingang entgegengingen und dann darin verschwanden.
Ich schüttelte mich ebenfalls und konzentrierte mich auf das Nummernschild des Mercedes. Ich prägte mir die Nummer tief ins Gedächtnis ein.
Währenddessen kamen immer mehr Leute, meist Pärchen mit oder ohne Kinder. Als es sich dann 15 Uhr näherte, betrat ich auch den Saal.
Er war groß, viel größer als sein äußerer Anschein preisgab. Dreiviertel von den Plätzen waren besetzt. Ich blieb trotzdem nahe am Eingang stehen, unscheinbar beobachtete ich das Treiben.
Mit ein paar Minuten Verspätung begab sich eine etwas dickliche, ältere Frau mit Brille auf die Bühne. Mit einem Mikrophon in der Hand begrüßte sie die Besucher:
"Herzlich Willkommen meine Damen und Herren, Jungs und Mädchen. Ich freue mich dass Sie so zahlreich erschienen sind um das junge Geigentalent Rachel Sommer zu bewundern. Sie gilt als beste Junior Geigerin Europas und so können wir uns geehrt fühlen dass die uns mir ihrer Musik verzaubert. Hier ist sie: Rachel Sommer"
Lächelnd verließ sie die Bühne und überließ ihren Platz Rachel, die mit ihrer Geige selbstbewusst auf die Mitte der Bühne schritt.
Ich bemerkte wie ihre Hand leicht zitterte, doch sonst war ihre Nervosität nicht erkennbar. Sobald sie für alle sichtbar stehen blieb, legte sie ihre dunkle Geige an die Schulter, hob den Geigenbogen und begann.
Erstaunt öffnete ich den Mund. Fast alle in diesem Raum ahmten mich unwissend nach. Rachel spielte sanft, und doch drängend.
Noch nie hatte ich eine vergleichliche Musik gehört. Die Melodie des Liedes wurde mit jeden Takt schneller und näherte sich den Höhepunkt. Ich schloss die Augen und gab mich ganz der Musik hin.
Stolz erfüllte jede Zelle meines Körpers, da dieses kleine Naturtalent meine Schwester war.
Plötzlich öffnete sich leise die Tür. Ich drehte mich schnell um, etwas verärgert da derjenige meine Konzentration auf das Lied unterbrochen hatte.
Ich erblickte einen Mann, mitte dreißig. Etwas nervös rieb er an seinen 3-Tage Bart, doch sobald ihn die wohlklingenden Töne erreichten, entspannten sich seine Gesichtszüge. Ich wartete bis er sich einen Platz sucht, doch hingegen meiner Erwartungen stellte er sich in meine Nähe.
Aus den Augenwinkel betrachtete ich ihn näher. Seine braunen Augen strahlten Sympathie aus und in ihnen blitzte Stolz auf. Die braunen Haare standen etwas ab, jedoch sahen sie nicht ungepflegt aus sondern wirkten natürlich. Sein schlichtes kariertes Hemd hing locker an ihn hinunter, seine Hände waren tief in den Taschen seiner Jeans vergraben und sein Fuß wippte lautlos zum Rhythmus.
Dann schaute auch er mich an, ich weiss nicht ob ich mich geirrt hatte, doch glaubte ich Verblüffung in seinen freundlichen Augen entdeckt zu haben.
Unauffällig kam er mir etwas näher.
"Na, kennen Sie Rachel, oder interessiern sie sich für Musik?", flüsterte er mir freundlich zu.
Nervös suchte ich nach einen Ausweg. Lügen würde ich nicht, viel zu viel Böses klebte an ihnen.
"Ein Verwandter", antwortete ich kurz und bündig und wendete den Kopf ab.
Während des restlichen Konzerts ließ er mich in Ruhe, doch ich merkte wie sein Blick immer wieder auf mich fiel.
Kurz bevor das Konzert beendet wurde, verlies ich den Konzertsaal und wartete.
Bald darauf trat eine Menschenmenge aus den zu schmalen Ausgang.
Bald verkleinerte sich der Menschenfluss bis nur noch vereinzelte die Türschwelle überquerten.
Ich erblickte die in Schwarz gekleidete Frau, die genervt auf ihre Uhr blickte. Sie rief Rachels Namen woraufhin sie im Tührramen erschien.
Die Frau stand bereits am Auto und stieg ein. Das war meine Chance. Ich bewegte mich auf Rachel zu, rempelte dabei jedoch ausversehen jemanden an. Nach einer hastigen Entschuldigung blickte ich Richtung Rachel.
Sie war bereits beim Auto.
Verzweifelt rannte ich auf das Auto zu, das in dem Moment seinen Motor aufheulen ließ und schnell den Parkplatz verließ.
Die Hoffnung fast aufgegeben, erblickte ich ein Fahrrad. Schnell schnappte ich es mir und fuhr los, gerade als der Mercedes auf die Hauptstraße abbog.
Ich strampelte wie noch nie zuvor, das Gleichgewicht entwich mit kurz, da ich sicher drei Jahre nicht mehr auf ein Fahrrad gesessen hatte, doch sogleich fing ich mich und bog ebenfalls auf die Hauptstraße.
Etwa hundert Meter vor mir sah ich das weiße Auto. Meine Muskeln in den Beinen taten weh und sendeten regelmäßig schmerzhafte Stoßwellen zu meinem Gehirn, doch ich ließ nicht locker, dies war höchstwahrscheinlich die einzige und letzte Möglichkeit meine Schwester zurückzuhaben, vielleicht sogar das Leben auf der Straße als Vergangenheit anzusehen.
Trotz meiner Entschlossenheit fiel ich zurück. In der Ferne sah ich gerade noch wie der Mercedes nach links abbog.
Bevor ich noch richtig realisierte, dass ich eine Abkürzung kannte, überquerte ich die Straße, um in eine kleine Gasse zu gelangen. Den BMW, der eine Vollbremsung volzog und gleich darauf hektisch hupte, nahm ich nichteinmal richtig wahr.
Am Ende der Gasse blickte ich zufrieden auf die rote Ampel, vor welcher sich schon ein kleiner Stau gebildet hatte.
Ich blickte von Auto zu Auto, doch kein weißer Mercedes war dabei. Ich keuchte ungläubig.
Das konnte nicht sein, es führte kein Seitenweg von dieser Straße. Inzwischen schaltete die Ampel auf grün. Die Autos fuhren schnell weiter, doch mir kamen sie wie Zeitlupe vor.
Mir wurde schwindelig, das konnte nicht sein.
Ich hatte sie verloren.
Wahrscheinlich für immer.
Nein....Sie konnte doch nicht einfach vom Erdboden verschluckt sein.
Erste Tränen bahnten sich den Weg auf meinen Pulli hinunter. Betäubt stieg ich wieder auf das Fahrrad und fuhr die Straße entlang, wo der Mercedes herkommen sollte.
Ich folgte langsam die Straße. Die Welt um mir verschwamm von den Tränenfluss. Ich fuhr an einen großen Haus vorbei. Ein weißer Fleck bahnte sich in meinen Sichtfeld.
Ich blinzelte.
Es war ein Auto.
Ich blinzelte nochmals.
Ich erkannte einen Mercedes.
Hastig wischte ich mit meinen Arm über die Augen. Meine Augen huschten zum Nummernschild.
Eine Welle der Erleichterung ließen meine Schluchser ersticken Dies war das Auto, indem Rachel eingestiegen war. Plötzlich öffnete sich die Haustür, die Frau mit den schwarzen Haaren von vorher erschien im Türrahmen. Sie bewegte sich auf das Auto zu, stieg ein und fuhr weg.
Noch mehr Hoffnung tränkte meinen Körper, vielleicht war Rachel sogar alleine?
Ich stieg vom Fahrrad, und stolperte benommen zur Haustüre. Eine Klingel fiel mir in den Blick. 'Frau Sommer' stand in Blockbuchstaben darauf.
Mein Finger berührte das Plastik der Klingel, ein rasselnder Laut war vom inneren des Hauses zu vernehmen.
Dann Schritte.
Die Tür öffnete sich. Zum Vorschein kam Rachel.

Endlich das große Wiedersehen!
Wie glaubt ihr wird Rachel reagieren?
Wie gefällt's euch bis jetzt? Ich bin immer offen für Verbesserungsvorschläge, Fragen, Kritik...und sorry für die unregelmäßigen Veröffentlichungen😬
Danke fürs Lesen

Der Straßenjunge, der behauptete mein Bruder zu seinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt